Neulich beim Kiddusch

Politik verdirbt den Appetit

Israelische Unabhängigkeitserklärung vom 14. Mai 1948 Foto: Marco Limberg

Neulich beim Kiddusch

Politik verdirbt den Appetit

Was einem in der Synagoge alles passieren kann

von Chajm Guski  02.08.2010 16:38 Uhr

Der Gabbai sieht mich erwartungsvoll an. Eine fremde Gemeinde, ich kenne niemanden, stehe ganz vorne und habe das Gefühl, die versammelte Beterschaft hält die Luft an, um zu hören, wen ich als Nächsten für eine Bracha nennen würde. Nachdem bereits die engsten Familienmitglieder an der Reihe waren, kann ich mich nicht entscheiden. Weiß nicht einmal, wie die Vorsitzenden heißen, es kann ja nicht schaden, sich ein wenig gut zu stellen. Fehlanzeige also. Weil mir absolut nichts einfällt, sage ich: »Medinat Jisrael«, den Staat Israel, und »haKahal«, die Gemeinde – das ist eigentlich ganz clever, und niemand fühlt sich übergangen. Der Gabbai nickt zufrieden und hetzt den Text herunter. Alle Umstehenden lächeln, ich lächele. Der Kiddusch kann kommen.

Der Saal ist aufgeteilt in mehrere quadratische Tische. Es sind nur wenige Stühle frei. Die Platzwahl ist schwierig. Den Tisch mit den Kindern, die die Flaschen mit der Apfelschorle durchschütteln, meide ich lieber. Den Tisch, an dem fast alle Polyesterhemden tragen, meide ich im Sommer ebenfalls lieber. In einer Ecke sehe ich eine Frau im mittleren Alter im Sommerkleid, einen unrasierten Burschen und einen milchgesichtigen Jungen. Das soll mein Tisch werden: eine harmlose Frau und ein intellektueller Student.

Unter Beobachtung Meine Menschenkenntnis hat mich aber vor die Wand laufen lassen. Auf mein freundlich-unverbindliches »Schabbat Schalom!« antworteten sie missmutig und kaum verständlich. Anschließend beugt sich die Dame zum Dreitagebart, der nickt mehrere Male und wirft mir einen verächtlichen Blick zu. Dann beugen sich beide zurück, und jetzt stößt die Frau den Bart einige Male an, bis der die Zähne auseinander bekommt. »Wir haben Sie beobachtet, das sollen sie wissen. Und äh, wir möchten bemerken, dass, ja, ...« – jetzt wird es der Frau zu bunt, sie ergreift selbst das Wort: »Wir haben Sie beobachtet gerade eben und möchten Ihnen sagen, dass wir der Meinung sind, die Synagoge ist kein geeigneter Ort für Ihre kleine politische Demonstration.«

Wird ein schwarzer Siddur hier schnell missverstanden? Das Rot des Tallitbeutels falsch interpretiert? Ich zucke mit den Schultern und versuche, meine Ratlosigkeit auszudrücken. »Ihr aufgeblasener Segen für den Staat Israel – als wüssten Sie nicht, dass der Zionismus in der Synagoge nichts verloren hat. Sie wollen uns wohl alle für Netanjahus Politik haftbar machen? Ohne uns! Das sagen wir Ihnen!«

Platzwechsel Der Student nickt, das Milchgesicht schüttet heißes Wasser in die Packung mit dem Süßstoff. »Okay« sage ich, »ich gehe kurz zum Buffet«, stehe auf, fülle meinen Teller und suche mir einen Platz auf der anderen Seite des Saals. Einige grauhaarige Herren deuten auf den freien Platz. »Kommen Sie, junger Mann«, werde ich freundlich eingeladen. Ich setze mich zu ihnen. Einer der Männer blickt mich ernst an: »Sagen Sie mal, wir haben Sie beobachtet. Glauben Sie nicht, dass Ihr Segen über den Staat Israel uns darüber hinwegtäuscht, dass sie bei dem Gebet für die israelische Verteidigungsarmee nicht ›Amen‹ gesagt haben. Glauben Sie wirklich, der Pazifismus kann die Probleme des Staates Israel lösen?«

Ich hatte keine Ahnung, was die korrekte Antwort war. »Wenn Sie das glauben, dann können Sie sich auch zu meiner Frau und meinen Söhnen setzen. Die sitzen da drüben«, dabei deutete er auf die Frau im Sommerkleid. Nächste Woche ist die Barmizwa seines Sohnes. Ich bin nicht eingeladen, gehe aber trotzdem hin. Ich habe ein schön gerahmtes Faksimile der Unabhängigkeitserklärung. Das schenke ich der Familie. Da haben alle was davon.

Umfrage

Studie: Deutsche vertrauen Zentralrat der Juden signifikant mehr als der christlichen Kirche und dem Islam

Die Ergebnisse, die das Meinungsforschungsinstitutes Forsa im Auftrag des »Stern«, RTL und n-tv vorlegt, lassen aufhorchen

 23.12.2025

Essay

Chanukka und wenig Hoffnung

Das hoffnungsvolle Leuchten der Menorah steht vor dem düsteren Hintergrund der Judenverfolgung - auch heute wieder

von Leeor Engländer  21.12.2025

Meinung

Es gibt kein Weihnukka!

Ja, Juden und Christen wollen und sollen einander nahe sein. Aber bitte ohne sich gegenseitig zu vereinnahmen

von Avitall Gerstetter  20.12.2025

Wajigasch

Mut und Hoffnung

Jakow gab seinen Nachkommen die Kraft, mit den Herausforderungen des Exils umzugehen

von Rabbiner Jaron Engelmayer  19.12.2025

Mikez

Füreinander einstehen

Zwietracht bringt nichts Gutes. Doch vereint ist Israel unbesiegbar

von David Gavriel Ilishaev  19.12.2025

Meinung

Heute Juden, morgen Christen

Judenhass führt konsequent zum Mord. Dafür darf es kein Alibi geben

von Rafael Seligmann  19.12.2025

Chanukka

»Wegen einer Frau geschah das Wunder«

Zu den Helden der Makkabäer gehörten nicht nur tapfere Männer, sondern auch mutige Frauen

von Rabbinerin Ulrike Offenberg  18.12.2025

Chanukka

Berliner Chanukka-Licht entzündet: Selbstkritik und ein Versprechen

Überschattet vom Terroranschlag in Sydney wurde in Berlin am Mittwoch mit viel Politprominenz das vierte Licht an Europas größtem Chanukka-Leuchter vor dem Brandenburger Tor entzündet

von Markus Geiler  18.12.2025

Chanukka

Wofür wir trotz allem dankbar sein können

Eine Passage im Chanukka-Gebet wirkt angesichts des Anschlags von Sydney wieder ganz aktuell. Hier erklärt ein Rabbiner, was dahinter steckt

von Rabbiner Akiva Adlerstein  17.12.2025