Feiertage

Pessach in Zeiten der Pandemie

Dieses Fest ist anders als sonst, aber wir sind unerwartete Veränderungen gewohnt. Foto: Getty Images

An Pessach machen wir normalerweise einen Ausflug zur Familie oder in ein schönes Hotel. Wir feiern den Seder mit allen Angehörigen, Jung und Alt gemeinsam. Wir sitzen zusammen an einem gedeckten Tisch oder in einem vollen Raum mit vielen Bekannten und Freunden. Pessach ist das Fest der Zusammengehörigkeit und der Einheit.

Schock Aber in diesem Jahr herrscht totale Ungewissheit. Alles ist abgesagt, wir dürfen nicht mehr reisen, Menschen sind unter Quarantäne gestellt, wir horten und bunkern, wir berühren uns nicht mehr. Wir konzentrieren uns auf Überlebensstrategien: Wie stelle ich sicher, nicht infiziert zu werden? Und das zu Recht. Doch manchmal können wir den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen. Nachdem wir uns vom ersten Schock erholt haben, müssen wir wieder zu Sinnen kommen und darüber nachdenken, warum dieses Corona-Elend uns trifft.

Wir konzentrieren uns auf Überlebensstrategien.

Ich glaube nicht an Zufall, und ich gebe zu, dass wir G’ttes Wege auch nach diesem Artikel nie vollständig durchschauen können. Aber G’tt schickt uns eine Nachricht durch dieses winzige Virus, das unser ganzes Leben durcheinanderbringt. Was möchte G’tt, das wir erkennen? Finden wir in der Tora etwas, das uns inspirieren könnte?

Symptom Ich sehe im 3. Buch Mose Kapitel 13 ff. eine bemerkenswerte Parallele zu den aktuellen Ereignissen: Corona erinnert mich an die biblische Lepra. Doch diese Lepra ist eigentlich gar keine Krankheit, sondern das Symptom eines spirituellen Problems, nämlich bösartiger Rede.

Heutzutage würde man dazu sagen: Missbrauch des Rechts auf freie Meinungsäußerung. Andere Personengruppen als minderwertig und schlecht darzustellen, gipfelt in Rassismus und »Sin’at chinam«, sinnlosem Hass.

Chametz und Mazza repräsentieren zwei Weltanschauungen.

Aber für manche Menschen scheint es nichts Schöneres zu geben, als andere zu Fall zu bringen und sich dadurch zu erheben und besser zu fühlen. Die Tora warnt immer wieder vor diesem psychologischen Mechanismus. Und weil dieses Phänomen mit rechtlichen, erzieherischen oder strafenden Maßnahmen von uns Menschen nur sehr schwer auszumerzen ist, greift G’tt gelegentlich persönlich ein und sendet uns ein Zeichen des Himmels.

götzendienst Böses Reden, sagen unsere Weisen, ist schlimmer als Mord, Unzucht und Götzendienst. Sie vergleichen es mit einem Pfeil, der – einmal abgeschossen – nicht mehr zurückgeholt werden kann. In den Psalmen (120, 2–4) heißt es: »O G’tt, rette mich vor denen, die mit ihren Lippen lügen, und denen, die mit ihrer Zunge betrügen. Wie wird Er dich streng bestrafen, betrügerischer Redner? Die scharfen Pfeile von Kriegern mit Pfeilspitzen, die über Glühkohle geschmiedet sind.«

Warum wird Boshaftigkeit mit Pfeilen verglichen? Weil Pfeile weit reichen. Im Zeitalter des Internets und der sozialen Medien wird alles in kürzester Zeit weltweit verbreitet. Der Schaden ist kaum zu übersehen. Und warum wird Boshaftigkeit mit heißer Kohle verglichen? Schwelende Kohlen sind sehr gefährlich. Äußerlich scheinen sie erloschen zu sein, doch innen brennt immer noch verzehrende Glut. Auch die Worte eines Lästerers fügen noch Schaden zu, lange nachdem sie gesprochen wurden.

Chametz Derzeit sind wir Juden weltweit mitten in den Vorbereitungen für Pessach. Dazu gehört vor allem, nicht einmal mehr einen Krümel Chametz in unserem Besitz zu haben, geschweige denn, Ungesäuertes zu verzehren. Unser Verlangen nach irdischen Gütern, ob materieller oder seelischer Natur, wird durch das »Chametz-Vernichten« symbolisiert. Dies und die Suche nach Chametz zeigen an, dass wir auf alle materiellen Wünsche verzichten und auch Abschied nehmen von unserem »aufgeblasenen« Ego.

Dieses Fest ist anders als sonst. Aber wir sind unerwartete Veränderungen gewohnt.

Chametz ist das Gegenstück zu Mazza. Was ist der Unterschied zwischen diesen beiden Brotsorten? Chametz steht für Materialismus. Die Mazza dagegen, die wir an Pessach essen, symbolisiert Selbstaufopferung und Demut, die Einfachheit und das Offensein für das Höhere.

Mazza Chametz und Mazza repräsentieren zwei Weltanschauungen, zwei Sichtweisen. Die Mazza symbolisiert: Nichts geschieht, ohne dass G’tt es geschehen lässt. Jede noch so geringe Veränderung im Universum ist G’ttes Arbeit. Nach dem Auszug aus Ägypten war klar, dass G’tt alle Fäden in der Hand hält. Selbst bei täglichen Ereignissen ist Seine Führung erkennbar. Vielleicht ist dies der Grund, warum die Mazza auch »Brot des Glaubens« genannt wird. Die Mazza lehrt uns, dass ein großer Schöpfungsplan existiert. Außer unserem eigenen freien Willen und unseren moralischen Entscheidungen ist alles fixiert, steht alles fest.

Chametz dagegen symbolisiert spontane Veränderung, den Beginn eines Prozesses, in dem niemand mehr die Kontrolle hat. Eine Mazza ist nur dann eine Mazza, wenn der Bäcker kontinuierlich an der Form des Teiges gearbeitet hat. Mazzateig bleibt nur dann dünn und platt, wenn er stets bewegt, geknetet, gewalzt und direkt gebacken wird. Wird er allein gelassen, beginnt der Teig spontan zu gären und wird zu Chametz.

Lassen Sie uns zu G’tt beten, dass Er diese Plage stoppt, die Trauernden tröstet, die Kranken heilt und vor allem an die Armen unter uns denkt.

Um zu betonen, dass selbst die kleinsten Ereignisse G’ttes Aufmerksamkeit erhalten und Ihm nicht entgehen, sagt unser Religionsgesetz, die Halacha, dass selbst der kleinste Krümel Chametz verboten ist. Wenn auch nur ein kleines Teilchen Chametz in ein riesiges Fass Mazzateig fällt, ist der ganze Teig nicht mehr koscher für Pessach.

Corona Und wieder sehe ich eine Parallele zu Corona. Das Virus ist klein, aber bösartig. Die Bedrohung ist unsichtbar und scheint unwirklich. Aber genau da liegt die Gefahr. Ein unsichtbares Virus bringt unsere Gesellschaft völlig aus dem Konzept. Unser ganzer Lebensrhythmus ist zerbrochen. Ganz ähnlich wirkt Chametz.

Mit Pessach hielt das jüdische Volk Einzug in die Geschichte. In einer Lage, die man ohne Zweifel als aussichtslos bezeichnen konnte, wurde eine Nation geboren, die sich über alle gesellschaftlichen Konventionen hinweg zu behaupten wusste. Israel wurde ein Volk in einem fremden Land, in dem ihm unter einer repressiven Sklaverei alle Rechte verweigert wurden. Die Zukunft schien verloren.

Das Pessachfest wird dieses Jahr völlig anders aussehen als in den Jahren zuvor. Aber wir sind Rückschläge und unerwartete Veränderungen gewohnt. Konzentrieren wir uns ganz auf den Sedertext, die Haggada, die uns aus der geistigen und körperlichen Sklaverei in eine nie geahnte Freiheit führen wird. Lassen Sie uns zu G’tt beten, dass Er diese Plage stoppt, die Trauernden tröstet, die Kranken heilt und vor allem an die Armen unter uns denkt.

Der Autor ist Oberrabbiner der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, Dajan beim Europäischen Beit Din und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).

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