Folgenreich

Nicht ohne meinen Nachbarn

Von wegen selbst ist der Mann. Sogar der coolste Typ ist manchmal auf Hilfe vom Nachbarn angewiesen. Foto: imago

Das Wort »Freiheit« ist zu einer Phrase geworden. Es kommt in vielen Zusammenhängen und Slogans vor. Wir meinen zu wissen, was das Wort bedeutet, doch was sagen wir, wenn uns jemand darum bittet, »Freiheit« zu definieren? Bedeutet »Freiheit«, dass wir alles tun und lassen können? Das würde bedeuten, wir müssten anderen das gleiche Recht zugestehen. Wenn jeder alles selbst entscheidet, ist jeder auf sich gestellt. Eine solche Freiheit könnte zwar zunächst begrüßt werden. Doch wie viel Sicherheit lässt diese Freiheit zu? Es ist nicht lange her, dass nahezu unreglementierte Finanzmärkte die Welt in eine Krise gestürzt haben. Gab es zuvor Rufe nach einer Freiheit für den Handel, wurde nun der Ruf nach Regeln und Verordnungen laut. Auch das Ende von Diktaturen ging in der jüngsten Vergangenheit nicht ohne den vollständigen Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung vonstatten. Und alsbald riefen die befreiten Bürger nach einem stabilen System, notfalls auch einem undemokratischen. Hier brachte die Freiheit nicht unbändige Freude über das abgeworfene Joch der Sklaverei, sondern häufig das bange Gefühl, ohne Sicherheiten zu leben. Wer sorgt für den nächsten Tag? Wer garantiert mir, dass ich morgen sicher zur Arbeit komme? Wer garantiert mir, morgen überhaupt noch Arbeit zu haben?

KLEINMUT Möglicherweise war der Gemütszustand der Kinder Israels sehr ähnlich, als Mosche ihnen eröffnete, dass Gott sie aus der Sklaverei in die Freiheit bringen werde. »Ich werde euch herausführen ..., werde euch mit ausgestrecktem Arm und mit großen Strafgerichten erlösen, und Ich will euch zu meinem Volk machen und will euer Gott sein ... Dann werde Ich euch in das Land bringen, für das Ich meine Hand erhob ... und werde es euch zum Besitz geben« (2. Buch Moses 6, 6–8). Ein großes Versprechen an Menschen, die die Freiheit nicht kennen. Die Tora beschreibt ihre Antwort: »Sie hörten nicht auf Mosche, weil ihr Geist kurz war (kotzer ruach) und wegen der harten Arbeit« (6,9). Was häufig einfach nur mit »kleinmütig« oder »ungeduldig« übersetzt wird, beschreibt einen Zustand, der selbst das Geschenk der Freiheit und des eigenen Grunds und Bodens nicht erstrebenswert erscheinen lässt. »Kotzer ruach« ist ein Zustand, den auch heute viele kennen. Während der Midrasch Rabba diesen Zustand noch als Mangel an religiöser Kraft interpretiert und als Unvermögen, sich der Götzenwelt Ägyptens zu entziehen, kennen wir »kotzer ruach« heute als einen Zustand, der vielleicht eher als Burn-out bezeichnet werden kann. Die körperlichen und geistigen Kräfte sind am Ende. Man hat weder Zeit noch Kraft für geistige Herausforderungen und ist vollkommen eingebunden in die Sicherung der eigenen Existenz. Zur Hoffnungslosigkeit der Kinder Israels kam hinzu, dass sie ihre Situation vermutlich genau kannten. Je weiter man sich von der Lebensader Nil entfernte, desto schwieriger wurde das Überleben. Aus der Gefangenschaft wegzulaufen, schien keine wirkliche Alternative zu sein, vor allem nicht für ausgezehrte Sklaven.

ÜBERZEUGUNGSKRAFT »Aber sie hörten nicht auf Mosche« (6,9) – an diesem Satz erkennen wir, dass Mosches Aufgabe, die Kinder Israels aus Ägypten hinaus in die Freiheit zu führen, aus zwei Teilen besteht. Zum einen muss er den Pharao dazu bringen, das Volk ziehen zu lassen. Zum anderen muss er sie selbst davon überzeugen, frei sein zu wollen. Es ist nicht damit getan, den Unterdrücker zu entfernen. Die Unterdrückten müssen auch lernen und wissen, wie sie in Freiheit leben und sich ihre Freiheit erhalten können. Mosche wird dies die Kinder Israels lehren. Doch das ist ein langer Weg. Den physischen Akt der Befreiung schildert die Tora in nur zwei Wochenabschnitten, doch 40 weitere folgen! Die physische Befreiung ist also nur ein kleiner Teil des größeren Prozesses. Freiheit bedeutet, dass wir über unser Schicksal selbst bestimmen können. Wir befinden uns nicht in Abhängigkeit, müssen zugleich aber Verantwortung übernehmen für die Umgebung, in der wir leben. Es gibt keine Freiheit ohne Verantwortung. Verantwortung für sich selbst und gegenüber der Gesellschaft, in der noch mehr Menschen leben, die ebenfalls ein Recht auf Freiheit haben. Weil Mosche diese Verantwortung übernommen hat, wurde er zu »Mosche Rabbejnu«, unserem Lehrer Mosche.

Der Autor ist Mitglied der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen und Begründer des egalitären Minjans Etz Ami im Ruhrgebiet.

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