Talmudisches

Mord im Heiligtum

Foto: Getty Images

Zu den vielfältigen Aufgaben, die die Kohanim (Priester) im Heiligtum zu erfüllen hatten, gehörte es, jeden Morgen Asche vom Altar abzuheben und sie daneben zu legen (3. Buch Mose 6,3). Eine Mischna erzählt, wie die Praxis aussah: »Am Anfang konnte jeder, der die Altarasche abheben wollte, diesen Dienst verrichten. Waren es mehrere, liefen sie die Rampe zum Altar hinauf, und wer den anderen bei der vierten Elle (vom Altar aus gerechnet) voraus war, hatte gesiegt« (Joma 2,1). Erreichten zwei Kohanim das Ziel gleichzeitig, fand eine Auslosung statt.

RAMPE Der Laufwettbewerb auf der Rampe wurde jedoch, wie die Mischna berichtet, nach einem Unfall abgeschafft. »Es ereignete sich, dass zwei, die gleich schnell waren, die Rampe hinaufliefen und der eine seinen Mitbewerber derart beengte, dass dieser hinunterfiel und sich den Fuß brach. Als der Gerichtshof sah, dass die Läufer in Gefahr gerieten, ordnete er an, dass man die Altarasche nur nach einer Auslosung abheben soll.«

Einen schrecklichen Vorfall beim Rennen auf der Rampe zum Altar schildert eine Barajta: »Einst liefen zwei Kohanim gleichzeitig die Altarrampe hinauf, und als ein Läufer innerhalb der vier Ellen des anderen diesen einholte, nahm der Kohen sein Messer und stieß es seinem Konkurrenten ins Herz« (Joma 23a).

Der Talmud will wissen, welche der zwei Begebenheiten zuerst geschah: »Wollte man sagen, der Fall des Blutvergießens – wieso haben sie dann die Auslosung wegen eines Beinbruchs angeordnet, während sie die Auslosung sogar wegen des Mordes nicht anordneten?« Und ereignete sich die Geschichte vom Beinbruch früher – wieso fand dann überhaupt noch ein Wettlaufen statt?

Die Antwort der Gemara lautet: »Tatsächlich geschah der Mord zuerst; nur betrachteten sie diese Untat als einen außergewöhnlichen Vorfall. Erst als die Weisen erkannten, dass die Kohanim auch sonst in Gefahr gerieten, ordneten sie die Auslosung an.«

REDE Nach dem Blutvergießen im Heiligtum ist man nicht einfach zur Tagesordnung übergegangen. Rabbi Zadok trat auf die Stufen der Vorhalle und hielt vor dem Volk eine kurze und scharfe Rede: »Hört, Brüder aus dem Hause Israel! Es heißt: ›Wenn ein Erschlagener auf dem Boden gefunden wird (…), sollen deine Ältesten und Richter hinausgehen‹ (5. Buch Mose 21, 1–2). Für wen haben wir jetzt das genickgebrochene Kalb zu bringen, für die Stadt oder für den Tempelhof?«

Man hat Rabbi Zadoks Ansprache als ironisch bezeichnet. Denn es wird ein Toraabschnitt zitiert, der auf das im Heiligtum Vorgefallene aus verschiedenen Gründen nicht angewendet werden kann.

Wie der Talmud (Sota 45b) feststellt, gilt das angeführte Gesetz nicht in Jerusalem. Auch spricht die Tora von einem solchen Fall, bei dem der Täter unbekannt ist – im Heiligtum jedoch musste der Mörder nicht erst ermittelt werden.
Rabbi Zadok wollte die Anwesenden durch seine Worte aufrütteln, und das ist ihm auch gelungen: »Da brach das ganze Volk in Weinen aus.« Eine ungeheuerliche Tat war zu beklagen, die ein Diensthabender im Heiligtum begangen hatte.

VATER Die Gemara teilt uns auch mit, wie der Vater des Opfers reagiert hat. Er sprach, als er sah, dass sich der Jüngling noch bewegte: »Möge mein Sohn eine Sühne für euch sein. Er bewegt sich noch, das Messer ist nicht unrein geworden.«

Der Talmud kommentiert die Bemerkung des Vaters über das Messer im Körper des sterbenden Sohnes: »Dies lehrt dich, dass die Reinheit der Tempelgeräte für sie schwerer wog als Blutvergießen.« Eine falsche Priorität!

Warum hat in unserer Geschichte ein Kohen seinen Konkurrenten erstochen? Weil er unbedingt das Gebot der Tora, Asche vom Altar abzuheben, ausführen wollte. Doch gerade jemand, der mit Eifer eine bestimmte Mizwa erfüllen möchte, sollte peinlich darauf achten, dass andere Menschen durch sein Tun nicht zu Schaden kommen.

Wajera

Awrahams Vermächtnis

Was wir vom biblischen Patriarchen über die Heiligkeit des Lebens lernen können

von Rabbiner Avraham Radbil  07.11.2025

Talmudisches

Rabbi Meirs Befürchtung

Über die falsche Annahme, die Brachot, die vor und nach der Lesung gesprochen werden, stünden im Text der Tora

von Yizhak Ahren  07.11.2025

Festakt

Ministerin Prien: Frauen in religiösen Ämtern sind wichtiges Vorbild

In Berlin sind zwei neue Rabbinerinnen ordiniert worden

 06.11.2025

Chassidismus

Im Sturm der Datenflut

Was schon Rabbi Nachman über Künstliche Intelligenz wusste

von Rabbiner David Kraus  06.11.2025

Rezension

Orthodoxer Rebell

Sein Denken war so radikal, dass seine Werke nur zensiert erschienen: Ein neues Buch widmet sich den Thesen von Rabbiner Kook

von Rabbiner Igor Mendel  06.11.2025

Potsdam

Abraham-Geiger-Kolleg ordiniert zwei Rabbinerinnen

In Deutschlands größter Synagoge Rykestraße in Berlin-Prenzlauer Berg werden an diesem Donnerstag zwei Rabbinerinnen ordiniert. Zu der Feier wird auch Polit-Prominenz erwartet

 05.11.2025

Vatikan

Theologe: Antisemitismus bei Vatikan-Konferenz kein Einzelfall

Der Salzburger Theologe Hoff berichtet über Eklats bei einer jüngsten Vatikan-Konferenz. Ein Schweizergardist soll sich verächtlich über Mitglieder einer jüdischen Delegation geäußert und in ihre Richtung gespuckt haben

 04.11.2025

Wittenberg

Judaistin kuratiert Bildungsort zur Schmähplastik

Die Darstellung der sogenannten »Judensau« an der Wittenberger Stadtkirche, der früheren Predigtkirche des Reformators Martin Luther (1483-1546), gehört in Deutschland zu den bekanntesten antisemitischen Darstellungen des Mittelalters

 02.11.2025

Lech Lecha

Im Sinne der Gerechtigkeit

Awraham war der Erste in der Menschheitsgeschichte, der gegen das Böse aufstand

von Rabbiner Salomon Almekias-Siegl  31.10.2025