Medizin

Lasst euch helfen!

Manche Menschen sind zu stolz, Hilfe von Ärzten anzunehmen – sie glauben, alles selbst schaffen zu müssen. Foto: Getty Images / istock

Kranke Menschen sind grundsätzlich auf Hilfe angewiesen. Denn allein sind sie meist nicht imstande, ihre Krankheit zu besiegen. Krankheit kann einen Menschen also ohnmächtig machen – und oft fühlt sich der Betroffene auch so.

Ja, Ärzte können helfen, doch nicht immer wollen Menschen, dass man ihnen hilft. Dieser Satz hört sich auf Anhieb vielleicht widersprüchlich an. Denn eigentlich ist doch das Gegenteil richtig – die meisten Menschen möchten sehr wohl, dass ihnen geholfen wird.

Allerdings nicht um jeden Preis. Denn es gibt auch Gründe, auf Hilfe zu verzichten. Normalerweise liegt der Knackpunkt darin, dass ein Mensch glaubt, alles selbst schaffen zu können – und stark, schlau und mutig genug dafür zu sein.

Ego Dass jemand keine Hilfe von anderen annehmen möchte, hängt dann auch mit dem eigenen Ego zusammen: »Du wirst mir nicht helfen, ich helfe mir selbst!« Ist es aber erlaubt, Hilfe nicht anzunehmen? »Lass heilen ihn, ausheilen«, heißt es im 2. Buch Mose 21,19. Die Tora gibt dem Arzt die Erlaubnis, uns zu heilen.

Ein Mediziner forscht und studiert – nicht, um Karriere zu machen, sondern um Menschen zu helfen. Die Tora hat den Arzt bevollmächtigt, sein Wissen und seine Erfahrungen zum Wohle der Menschen zu gebrauchen. Er kann und muss uns also seine Hilfe anbieten. Müssen wir diese medizinische Hilfe aber auch unbedingt annehmen?

Wir müssen alles tun, um gesund zu sein. Dazu gehört auch medizinische Behandlung.

Wenn die Frage aufkommt, ob man auf Wunder warten oder sich doch durch die Medizin helfen lassen soll, ist die Antwort eindeutig: Man muss sich an die Mediziner wenden (Kizzur Schulchan Aruch 192,3). Wir dürfen uns nicht auf Wunder verlassen. Wir müssen alles unternehmen, um gesund zu sein. Dazu gehört auch, von den Leistungen der Medizin zu profitieren.

Lebensqualität Doch manche Menschen, die im Krankenbett liegen, argumentieren anders. Einige sind, G’tt behüte, so krank, dass sie die Hoffnung verlieren, es könnte ihnen geholfen werden. Schmerzen bei einer Behandlung können noch schlimmer sein als die Krankheit selbst. Und bestimmte Behandlungen versprechen nicht einmal eine Verbesserung der Lebensqualität.

Es kann vorkommen, dass Ärzte eine Behandlung empfehlen, sich aber selbst nicht sicher sind, ob sie helfen wird. Und manchmal vertraut auch der Mensch den Ärzten nicht und schämt sich sogar, auf Hilfe angewiesen zu sein. Der eine ist so gläubig, dass er meint, dass G’tt allein ihm helfen wird, und verzichtet auf medizinische Hilfe. Der andere glaubt an die Alternativmedizin.

Es gibt Argumente, die wir nicht akzeptieren können. Es ist klar, dass Behandlungen wehtun können. Aber falls die Schmerzen nach der Behandlung vergehen und die medizinischen Maßnahmen das Leben verlängern und verbessern können, ist es laut Rabbiner Moshe Feinstein eine »dumme Aussage«, die Behandlung aus solchem Grund nicht durchzuführen. In diesem Fall darf man dem Kranken die Behandlung aufzwingen (Igrot Mosche, Choschen Mischpat 2,73 e).

Falls der Patient bestimmten Ärzten nicht vertraut, sollte man einen anderen Arzt finden, dem der Kranke sein Vertrauen schenkt, oder ihn überzeugen, dass die Behandlung gute Chancen hat.

Hinzu kommt: Oft sind sich Ärzte nicht einig. Manche meinen, dass ein bestimmtes Vorgehen richtig ist, und manche setzen auf das Gegenteil. Man kann den Kranken aber nicht zwingen, sich für eine bestimmte Variante zu entscheiden. Der Patient hat dann das Recht, sich mit anderen Methoden oder bei anderen Ärzten behandeln zu lassen.

Psyche Dabei ist auch der psychische Zustand unbedingt zu berücksichtigen. Einen kranken Menschen, der so eine große Angst vor der Behandlung hat, dass sich dadurch sein Zustand akut verschlechtert, darf man nicht zwingen, sich behandeln zu lassen.

Genauso ist es bei einer Behandlung, die den Kranken in Lebensgefahr bringen kann. Falls das Risiko größer ist als die Chance, das Leben zu verlängern oder die Lebensqualität zu verbessern, ist es nicht möglich, ihn dazu zu zwingen (Igrot Mosche, Jore Dea 3,36).

Nicht immer kann der Kranke gefragt werden – wie etwa bei einem Notfall. Er ist bewusstlos, er ist, G’tt behüte, kurz vor einem Herzinfarkt, er leidet so stark, dass er kaum imstande ist zu kommunizieren. Hier muss eingegriffen werden, man muss ihn zwingen.

Falls eine Behandlung das Leben verlängert und verbessert, darf man den Kranken dazu zwingen.

Eine Ausnahme stellen diejenigen Menschen dar, deren Leben um weniger als ein Jahr verlängert werden kann. In diesem Fall kann der Kranke durch eine Patientenverfügung auf lebensverlängernde Maßnahmen im Notfall verzichten (Igrot Mosche, Choschen Mischpat 2,74,2).

Schabbatgesetz Im Gegensatz dazu meint allerdings Rabbiner Eliezer Jehuda Waldenberg (1915–2006), dass wir die Pflicht haben, einem Kranken auch gegen seinen Willen zu helfen und sein Leben zu verlängern. Waldenberg leitet seine Haltung von der Tatsache ab, dass es sogar erlaubt ist, die Schabbatgesetze zu brechen (Pikuach Nefesch), um einen Menschen zu retten (Ziz Eliezer 9,47).

Antibiotika Es ist bekannt, dass nicht alle Menschen auf der Welt über alle medizinischen Behandlungen einer Meinung sind. Es gibt Vereine gegen Antibiotika oder Hormonspritzen. Es ist uns auch nicht möglich, Menschen zu zwingen, medizinische Vorsorgeuntersuchungen durchführen zu lassen, solange manche Ärzte der Meinung sind, dass sie nicht notwendig oder sogar gefährlich sind.

Falls alle Ärzte dieses Landes allerdings befinden, dass etwa Impfungen nicht gefährlich, sondern im Gegenteil hilfreich sind, um gefährliche Krankheiten zu vermeiden, trifft ein Mensch, der die Behandlung ablehnt, eine »dumme« Entscheidung, und man könnte ihn theoretisch dazu zwingen, sie dennoch durchführen zu lassen (erweiternde Informationen dazu: Tchumin 25, S. 22–40).

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Frankfurt/Main und Mitglied im Vorstand der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).

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