Pandemien

Kuchen an Jom Kippur

Was Rabbiner früherer Zeiten ihren Gemeinden in Zeiten der Cholera empfahlen

von Rabbiner Avraham Radbil  25.09.2020 16:11 Uhr

Jom Kippur ist ein strenger Fastentag – Ausnahmen werden nur in Extremfällen gemacht. Foto: Getty Images/iStockphoto

Was Rabbiner früherer Zeiten ihren Gemeinden in Zeiten der Cholera empfahlen

von Rabbiner Avraham Radbil  25.09.2020 16:11 Uhr

Die Hohen Feiertage verlaufen in diesem Jahr anders als sonst. Die Sicherheitsmaßnahmen und auch der veränderte innere Gemütszustand der Synagogenbesucher begleiten unsere Feiertage.

Doch wie König Schlomo in Kohelet sagt: »Es gibt nichts Neues unter der Sonne« – und es ist bei Weitem nicht das erste Mal, dass unser Volk in Zeiten einer Epidemie die Hohen Feiertage begeht.

GEMEINDELEBEN Es ist sehr interessant, sich anzuschauen, wie die Rabbiner und ihre Gemeinden mit den Gegebenheiten der damaligen Zeit umgegangen sind und das Gemeindeleben den veränderten Bedingungen anpassten.

Lange Zeit war kaum bekannt, wie Krankheiten übertragen werden. Es gab nur ein mangelhaftes Verständnis davon, dass Krankheiten von Person zu Person oder durch die Luft übertragen werden können. Man nahm an, dass Hygiene, Tageszeit und Ernährung eine mögliche Ansteckung beeinflussen.

Mit bestimmten Lebensmitteln oder Praktiken versuchte man, einer Krankheit vorzubeugen. Die wissenschaftliche Begründung hinter all dem fehlte, doch führte die allgemeine Vorstellung davon, wie sich Krankheiten übertragen, zu entsprechenden Vorbeugemaßnahmen.

BRIEFE Rabbi Akiva Eiger (1761–1837) war während der zweiten Cholera-Pandemie (1826–1837) Rabbiner von Posen. Von 1830 bis 1831 verfasste er eine Reihe von Briefen zu verschiedenen Aspekten der Krankheit und ihren Auswirkungen.

In der zweiten Cholera-Pandemie wurden in Posen G’ttesdienste auf 15 Personen begrenzt.


Der erste dieser Briefe, der während der gegenwärtigen Corona-Pandemie häufig zitiert wird, befasst sich mit den täglichen G’ttesdiensten, bei denen sich größere Menschengruppen auf kleinem Raum versammeln. Der Brief ist an seinen Kollegen Elijahu Guttmacher adressiert, der in der nahe gelegenen Gemeinde Pleschen amtierte.

Rabbi Eiger schreibt: »Der Brief seiner Ehren, bezüglich des Gebets in der Synagoge, hat mich erreicht. Meiner Ansicht nach ist es zwar unangemessen, sich auf kleinem Raum zu versammeln, aber es ist möglich, in Gruppen zu beten, die jeweils sehr klein sind und etwa 15 Personen umfassen. Das Gebet sollte beim ersten Licht beginnen, gefolgt von der nächsten Gruppe. Außerdem sollte jeder eine bestimmte Zeit haben, um dort zu beten. Das Gleiche gilt für Mincha. (…)

quote Und sie sollten darauf achten, dass Menschen, die über die oben genannte Quote hinausgehen, nicht in die Synagoge eindringen. Vielleicht sollte ein Wachmann der Polizei dies überwachen. Sobald sie die Zahl (15) erreicht haben, sollten sie anderen nicht erlauben einzutreten, bis diese Gruppe fertig ist.

Stellen Sie diese Anfrage vor den Richter und berichten Sie, dass ich diese Anweisung für Sie geschrieben habe. Und wenn sie sich weigern, wäre es gut, dies mit den örtlichen Behörden zu vereinbaren. Sie werden sicherlich Erfolg haben, wenn Sie meinen Namen erwähnen, dass ich Sie angewiesen habe, keine großen Versammlungen in der Synagoge auf kleinem Raum abzuhalten, und dass ich Sie über diese Vorkehrungen informiert und Sie gewarnt habe, Tehillim zu rezitieren und für den König zu beten. Möge G’tt ihn auch beschützen!«

Dieses Schreiben ist bemerkenswert darin, wie sensibel es mit den Themen Ansteckung und Überfüllung umgeht und die weltlichen Behörden miteinbezieht, um die Maßnahmen durchzusetzen.

dekret In Übereinstimmung mit seinem früheren Brief über die Begrenzung der Beterzahl in der Synagoge erließen Rabbi Eiger und die Mitglieder des rabbinischen Gerichts von Posen 1831 folgendes Dekret, das vor den Hohen Feiertagen während der Cholera-Pandemie eine Anleitung gab.

Mit Erlaubnis von Rabbiner Salanter wurde 1848 auf der Bima gegessen und getrunken.


»Wir geben folgende Richtlinien auf Empfehlung der Ärzte, dass das Versammeln großer Menschenmengen über längere Zeiträume, frühes Verlassen des Zuhauses auf nüchternen Magen und Einatmen der scharfen Morgenluft wahrscheinlich Cholera verursachen kann.

Darüber hinaus sind die Dämpfe von Öllampen (…) in den Synagogen gesundheitsschädlich. (…) Alle Synagogen, einschließlich der Männer- und Frauenabteilung, sollten nur die Hälfte ihrer Sitzplatzkapazität ausfüllen, sodass jeder zweite Sitzplatz leer bleibt.

Um einen gleichberechtigten Zugang während der Hohen Feiertage zu ermöglichen, wird die Hälfte der Gemeindemitglieder an den beiden Tagen von Rosch Haschana teilnehmen, während die andere Hälfte an Jom Kippur teilnehmen wird, wobei der spezifische Feiertag durch Lotterie festgelegt wird.

MILITÄRGARDE Am Eingang der Synagoge sollte eine Militärgarde stationiert werden, um eine ordnungsgemäße Platzaufteilung gewährleisten zu können. Die Dauer des G’ttesdienstes für Rosch Haschana sollte nicht fünf Stunden überschreiten. Jeder zur Tora Aufgerufene sollte nur einen Mischeberach erhalten, Pijutim sollten weggelassen werden, und der Kantor sollte die Gebete nicht mit Melodien oder musikalischen Anlagen verlängern.«

Ähnliche Richtlinien wurden für Jom Kippur festgelegt, wobei das Problem des Essens am Fastentag separat behandelt wurde. Man ging davon aus, dass die von der Lotterie bestimmten Personen, die nicht zur Synagoge gehen sollten, im Minjan eines Privathauses beten würden. Auch für diese Situationen wurden Vorkehrungen getroffen, um eine Ansteckung zu vermeiden.

Auch während der dritten Cholera-Pandemie von 1846 bis 1860 wurden Beschränkungen für den Besuch der Synagoge erlassen. So verfügte Rabbi Jakow Zwi Mecklenburg (1785–1865) – er war Rabbiner in Königsberg und Autor des Werkes HaKtav vehaKabbala –, dass die Frauen zu Hause beten und die Synagoge nicht besuchen sollen.

In der gegenwärtigen Coronavirus-Pandemie lauteten die ersten Empfehlungen für viele Gemeinden im Sinne des obigen Briefes von Rabbi Akiva Eiger, den Besuch der Synagoge zu begrenzen und den Abstand zwischen den Versammelten zu vergrößern, um die Gefahr einer Ansteckung zu verringern.

Mit der zunehmenden Verbreitung der Krankheit und der steigenden Zahl von Todesfällen führte der begrenzte Besuch von Synagogen jedoch dazu, dass Bethäuser auf der ganzen Welt vollständig geschlossen wurden – eine Maßnahme, die in der Geschichte der Halacha noch nie vorgekommen war.

FASTEN Die vielleicht berühmteste rabbinische Entscheidung bezüglich des Fastens an Jom Kippur während einer Pandemie ist die von Raw Jisrael Salanter (1810–1883) während der dritten Cholera-Pandemie 1848. Der Schriftsteller David Frischmann (1859–1922) hat sie in einer Erzählung verarbeitet:

»Drei Personen, die (…) aßen, aßen an keinem normalen Wochentag, sondern an Jom Kippur. Und nicht nur am Jom Kippur, sondern am Jom Kippur, der auf einen Schabbat fiel. Sie aßen nicht im Geheimen, sondern vor allen, die sich in der Großen Synagoge versammelt hatten.

Sie waren keine einfachen Leute oder Jünglinge. Diese drei waren nicht leichtfertig. Sie waren vielmehr die Fürsten der Gemeinde, ihre wichtigsten Anführer: der Rabbiner der Stadt und die beiden Dajanim (rabbinischen Richter), die bei ihm standen. (…)

Es war der Nachmittag von Jom Kippur. (…) Der Rabbi stand auf der Bima, seine dunklen Augen leuchteten aus seinem blassen Gesicht und seinem weißen Bart. Der Mussaf-G’ttesdienst war fast vorbei, und die Gemeinde wartete schweigend darauf, etwas von diesem G’ttesmann zu hören. (…)

Plötzlich hörten meine Ohren ein Geräusch, aber ich konnte nicht genau verstehen, was es war. Ich hörte die Geräusche, aber mein Herz konnte es nicht verstehen: ›Mit der Erlaubnis G’ttes und mit der Erlaubnis der Gemeinde erlauben wir hiermit den Menschen, heute zu essen und zu trinken.‹

Der Schamesch trat vor, und der Rabbi flüsterte ihm ein paar Worte ins Ohr. Dann sprach er mit den beiden Dajanim, die neben ihm waren. Sie nickten, als wollten sie dem zustimmen, was er gesagt hatte. Als dies geschah, brachte der Schamesch einen Becher Wein und etwas Kuchen aus dem Haus des Rabbiners.

Wenn ich das Glück habe, noch viele Jahre zu leben, werde ich diesen unglaublichen Tag und diesen großartigen Anblick nie vergessen. Wenn ich meine Augen für einen Moment schließe, kann ich sie immer noch sehen: die drei, die gegessen haben! Die drei Hirten Israels, die auf der Bima in der Synagoge stehen und vor allen essen, am Jom Kippur.«

VERNUNFT An dieser Geschichte sehen wir, wie weit die Rabbiner zu gehen bereit waren, um den Menschen Vernunft vorzuleben.

Während der dritten Cholera-Pandemie gab es für Synagogenbesuche weltweit Beschränkungen.

Auch heute gibt es zahlreiche rabbinische Responsen, die sich mit der aktuellen Pandemie und den damit verbundenen Fragen beschäftigen, wie etwa von Rabbiner Ascher Weiss oder Rabbiner Herschel Schachter. In vielem berufen sie sich auf die oben dargelegten Quellen.

Aus allen Responsen geht hervor: Man muss immer einen kühlen Kopf bewahren, die allgemeine Situation sehr ernst nehmen und alle möglichen Vorsichtsmaßnahmen ergreifen. Auf keinen Fall darf man in Panik verfallen.

Eines dürfen wir nicht vergessen: dass unser Volk bereits einige Pandemien überlebt hat und dass wir nicht wissen, warum G’tt uns solche Plagen schickt. Doch können wir mit Sicherheit sagen, dass Er Seine schützende Hand über uns hält.

Mögen wir alle in das Buch der Lebenden eingeschrieben sein, und möge uns das kommende Jahr nur gute Nachrichten bringen, sodass wir von Pandemien und anderen Plagen nur aus Geschichtsbüchern und rabbinischen Responsen erfahren.

Der Autor ist Rabbiner der Synagogengemeinde Konstanz und Mitglieder der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).

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