Fußball

Koscher jubeln

Foto: picture-alliance/ dpa

Wer derzeit das Brandenburger Tor besucht, wird feststellen, dass das Berliner Wahrzeichen in ein riesiges Fußballtor verwandelt wurde, das mit 64 mal 26 Metern sogar das größte Fußballtor der Welt ist. Zusätzlich wurden 24.000 Quadratmeter Kunstrasen zwischen dem »Brandenburger Tor-Tor« sowie der Siegessäule, der sogenannten Fan-Zone, verlegt.

Anlass für den großen Aufwand ist die Fußball-Europameisterschaft 2024, die am Freitag startet. Erstmals seit der Wiedervereinigung wird das größte und bedeutendste Fußballturnier Europas in Deutschland ausgetragen. Neben den deutschen Fußballfans werden rund zwei Millionen Besucher aus 120 Ländern erwartet, darunter sicher auch einige observante Juden.

Obwohl man alle Spiele bequem vom Sofa aus im Fernsehen verfolgen kann, werden echte Fußballfans bestätigen können, dass eine Live-Übertragung nicht mit dem Erlebnis im Stadion zu vergleichen ist. Der Lärm, die Stimmung und die Leidenschaft, die ein Fußballspiel im Stadion begleiten, veranlassen Tausende, die häusliche Komfortzone zu verlassen und tief in die Tasche zu greifen, um das Spiel von der Tribüne aus zu verfolgen. Viele Fußballfans kommen auch ins Stadion, um die Mannschaft ihres Landes mental und lautstark zu unterstützen.

Im Talmud steht, dass der Besuch eines »Iztadiyon« wegen »Moschav Leizim« verboten ist

Aber was sagt die Halacha zum Besuch eines Stadions und zum Anfeuern der Mannschaft des eigenen Landes? Im Talmud (Avoda Zara 18b) steht, dass der Besuch eines »Iztadiyon« wegen »Moschav Leizim« verboten ist. Als Quelle wird der erste Vers des Buches Tehillim (Psalmen) angegeben: »Wohl dem Menschen, der nicht wandelt auf dem Weg der Frevler, der nicht beharrt auf dem Weg der Sünder, der nicht sitzt im Kreise der Spötter …«

Der Talmud folgert aus diesem Vers, dass es Orte gibt, an denen sich Spötter versammeln, also Menschen, die nicht produktiv sind und ihre Zeit vergeuden, und dass es für einen gʼttesfürchtigen und spirituell orientierten Menschen nicht angemessen ist, sich dort aufzuhalten.

Doch worum handelt es sich bei dem »Iztadiyon«? Sind damit wirklich die heutigen Stadien gemeint? Der mittelalterliche Talmudkommentator Raschi 1040–1105) sieht darin einen Ort, an dem Stier- und Gladiatorenkämpfe ausgetragen werden, und bezieht sich damit offensichtlich auf das römische Kolosseum.

Würden die Weisen des Talmuds auch den Besuch eines heutigen Sportstadions verbieten?

Kann die Leidenschaft für den Fußball von der Tora ablenken?

Obwohl ein Sportstadion auf Neuhebräisch ebenfalls »Iztadiyon« genannt wird, hat es fast nichts mehr mit den grausamen Spektakeln gemein, die die blutrünstigen Besucher des antiken Kolosseums unterhielten. Auch die Avoda Zara, der Götzendienst, der damals fester Bestandteil des Programms und der Atmosphäre im Kolosseum war, ist heute nicht mehr vorhanden – obwohl die Vergötterung von Fußballstars manchmal die Dimensionen eines Götzendienstes annimmt.

Dennoch schreibt Rabbi Mo­she Feinstein (1895–1986), amerikanischer Rabbiner und eine der bedeutendsten halachischen Autoritäten des 20. Jahrhunderts, in seinen Responsen (Iggrot Mosche, Jore Dea Vol. 4, 11), dass trotz der grundlegenden Unterschiede zwischen dem Kolosseum von einst und einem modernen Stadion der Grund des Talmuds für das Verbot des Kolosseums, »Moschav Leizim«, auch für unsere Sportstadien gelte.

Rabbiner Menasche Klein (1924–2011), ein weiterer prominenter amerikanischer Rabbiner, teilt diese Ansicht und verbietet den Besuch einer Sportveranstaltung in einem Stadion (Mischne Halachot Vol. 6, 270).

Es wird jedoch auch die Meinung vertreten, dass es im Gegensatz zum Kolosseum, dessen Besuch auch wegen Avoda Zara verboten war, heute kein kategorisches Verbot für den Aufenthalt in einem Stadion gibt. Rabbi Chaim Pinchas Scheinberg (1910–2012) erklärt, dass das Verbot von »Moschav Leizim« im Gesamtzusammenhang des ersten Psalms gesehen werden muss, dessen zweite Hälfte lautet: »Aber seine Freude ist die Tora Gʼttes, und mit seiner Tora beschäftigt er sich Tag und Nacht.«

Katalysator für die Unfähigkeit, sich dem Studium der Tora zu widmen und sich darauf zu konzentrieren

Er interpretiert das talmudische Verbot des »Moschav Leizim« nicht als Verbot an sich, sondern als Katalysator für die Unfähigkeit, sich dem Studium der Tora zu widmen und sich darauf zu konzentrieren. Demnach gibt es kein halachisches Problem für eine Person, die in der Lage ist, sich nicht allzu sehr von der Leidenschaft im Stadion mitreißen zu lassen und sich weiterhin dem Studium der Tora sowie den spirituellen Verpflichtungen zu widmen, ein solches zu besuchen.

Somit ist die halachische Legitimität eines Stadionbesuchs eine Meinungsverschiedenheit zwischen den halachischen Autoritäten. Mir scheint es, dass sich die Meinung von Rabbi Chaim Pinchas Scheinberg durchgesetzt hat.

Wer dennoch nicht ins Stadion gehen, aber die Stimmung und Leidenschaft miterleben möchte, für den ist das Public Viewing in der Fan-Zone am »Brandenburger Tor-Tor« genau das Richtige. Und ein wichtiger Disclaimer für alle, denen Umwelt und Nachhaltigkeit am Herzen liegen: Die 24.000 Quadratmeter Kunstrasen der Fan-Zone sollen nach der UEFA EURO 2024 für Bolzplätze in Berlin wiederverwendet werden.

Der Autor ist Assistenz-Rabbiner der Gemeinde Kahal Adass Jisroel und Dozent am Rabbinerseminar zu Berlin.

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