Tora

Keine Offenbarung für müde Israeliten

Kräfte sammeln geht im Schlaf. Foto: Flash 90

Es passiert häufig, dass ein müder Student eine Prüfung aus Erschöpfung lieber verpasst, als daran teilzunehmen. Aber es würde schon sehr überraschen, würde ein Kaufmann lieber ausschlafen wollen, statt ein lukratives Geschäft zu machen.

Wie ist es also zu erklären, dass G’tt die Übergabe der Tora auf die folgenden Tage nach der Ankunft der Israeliten am Berg Sinai verschiebt, statt sie ihnen direkt zu überreichen? Die Tora beschreibt (2. Buch Moses 19,2) den Weg der Kinder Israels durch die Wüste folgendermaßen: »Und sie reisten aus Refidim und kamen in die Wüste Sinai und lagerten in der Wüste, und Israel lagerte dort gegenüber dem Berg.«

Weltordnung Dazu heißt es im Talmud (Shabat 87): »Am ersten Tag nach dem Schabbat sagte Er ihnen nichts (…), aufgrund der Wegesschwäche.« Was ist das für eine Wegesschwäche? Was könnte G’tt dazu bringen, die Weltenordnung, die Er offenbaren will, symbolisch beiseitezulegen und abzuwarten, bis das auserwählte Volk vom Schlaf erwacht?

Wenn wir die Situation vereinfacht betrachten, finden wir schon bald die erste Logik dahinter. Denn wenn es in der Tora (1. Buch Moses 2,2) heißt »Er ruhte am siebten Tag«, dann ist es durchaus möglich, dass der g’ttliche Plan die Erschaffung von mehr als einer Million Männern, Frauen und Kindern nach einer schwierigen Wüstenwanderung bedenkt. Somit ist eine Erholungspause selbstverständlich.

Wie sehr Körper und Seele verbunden sind, darauf macht an dieser Stelle Raw Abraham Isaac Kook aufmerksam, der berühmte Rabbiner der 30er-Jahre und geistige Führer des religiösen Zionismus: »Die größte Heiligkeit ist Ausdruck des Lebens in seiner höchsten Form. (…) Auf einer müden Seele kann sie sich dagegen nicht in ihrer gesamten Fülle ausbreiten.« Müdigkeit, ebenso wie Trauer, belasten und beschweren Seele und Gedanken.

Raw Kuk erkennt allerdings in der bloßen Erschöpfung eine weitere Dimension: einen Widerspruch zur Heiligkeit. Heiligkeit, wie die einer Offenbarung G’ttes – die höchste zu erreichende geistige Stufe – braucht einen fähigen Empfänger.

Schöpfer Warum konnte die Tora den Israeliten nicht schon in Ägypten gegeben werden? Zwei Gründe werden jetzt leicht nachvollziehbar: die physische Erschöpfung durch Schwerstarbeit – und die seelische Erschöpfung des langen Sklavendaseins. Nur ein willensfreier Mensch kann über seinen Geist vollends verfügen.

Das Treffen auf den Schöpfer und die Annahme des Gesetzes, das die Welt verändern soll, bedarf der Bereitschaft eines geistigen Scharfschützen! Die müden Wanderer waren schlicht und einfach in der falschenVerfassung. Sie ziehen aus Refidim, überleben einen Krieg mit Amalek und kommen, ohne genau zu wissen, was sie erwartet, am Sinai an. Dort lässt G’tt sie zunächst zu sich kommen. Er braucht ein starkes Volk, damit der Neuanfang der Geschichte gelingt.

Am ersten Tag erfahren die Israeliten deshalb auch noch nicht das Ziel ihrer neuen Mission. Erst am zweiten Tag (Talmud, Shabat 87) gibt G’tt über Mosche weiter: »Und ihr sollt mir ein Staat aus Priestern und ein heiliges Volk sein.« (2. Buch Moses 19,6) Mit dieser Aussage werden sowohl der Weg als auch das Ziel des jüdischen Volkes bestimmt. Nicht nur sollen wir uns be-mühen, so zu sein – dafür haben wir die Tora –, sondern wir haben auch das Potenzial dazu.

Diese Information erhalten die Israeliten aber erst nach der Erholung, nicht auf dem Weg. Welchen Eindruck würde die Tora ansonsten auf unsere müden, durstigen und zweifelvollen Vorfahren machen? Es wäre kein guter Anfang gewesen. Vor jeder Herausforderung braucht der Mensch als Allererstes – Ruhe. Nicht umsonst spricht man in so vielen Sprachen von der »Ruhe vor dem Sturm«.

Ethik

Eigenständig handeln

Unsere Verstorbenen können ein Vorbild sein, an dem wir uns orientieren. Doch Entscheidungen müssen wir selbst treffen – und verantworten

von Rabbinerin Yael Deusel  10.01.2025

Talmudisches

Greise und Gelehrte

Was unsere Weisen über das Alter lehrten

von Yizhak Ahren  10.01.2025

Zauberwürfel

Knobeln am Ruhetag?

Der beliebte Rubikʼs Cube ist 50 Jahre alt geworden – und hat sogar rabbinische Debatten ausgelöst

von Rabbiner Dovid Gernetz  09.01.2025

Geschichte

Das Mysterium des 9. Tewet

Im Monat nach Chanukka gab es ursprünglich mehr als nur einen Trauertag. Seine Herkunft ist bis heute ungeklärt

von Rabbiner Avraham Radbil  09.01.2025

Wajigasch

Nach Art der Jischmaeliten

Was Jizchaks Bruder mit dem Pessachlamm zu tun hat

von Gabriel Umarov  03.01.2025

Talmudisches

Reich sein

Was unsere Weisen über Geld, Egoismus und Verantwortung lehren

von Diana Kaplan  03.01.2025

Kabbala

Der Meister der Leiter

Wie Rabbiner Jehuda Aschlag die Stufen der jüdischen Mystik erklomm

von Vyacheslav Dobrovych  03.01.2025

Tradition

Jesus und die Beschneidung am achten Tag

Am 1. Januar wurde Jesus beschnitten – mit diesem Tag beginnt bis heute der »bürgerliche« Kalender

von Rabbiner Jehoschua Ahrens  01.01.2025 Aktualisiert

Chanukka

Sich ihres Lichtes bedienen

Atheisten sind schließlich auch nur Juden. Ein erleuchtender Essay von Alexander Estis über das Chanukka eines Säkularen

von Alexander Estis  31.12.2024