Halacha

Kann denn Denken Sünde sein?

Warum bestimmte Überlegungen und Spekulationen im Judentum tabu sind – solange sie nicht spontan erfolgen

von Yizhak Ahren  03.03.2022 08:15 Uhr

Erst der Ausbau eines Einfalls ist Sünde. Foto: Getty Images

Warum bestimmte Überlegungen und Spekulationen im Judentum tabu sind – solange sie nicht spontan erfolgen

von Yizhak Ahren  03.03.2022 08:15 Uhr

Im dritten Abschnitt des Schma-Gebets, das tagtäglich sowohl im Morgen- als auch im Abendgebet rezitiert wird, heißt es: »Und nicht kundschaftet nach euren Herzen und nach euren Augen, denen nachfolgend ihr mir untreu werdet« (4. Buch Mose 15,39).

Eine Barajta erläutert diese Anweisung: »›Nach euren Herzen‹ – das ist die Häresie (hebräisch Minut), denn es heißt: Der Ruchlose spricht in seinem Herzen: Es gibt keinen Gott (Psalm 14,1). ›Nach euren Augen‹ – das sind die Sündengedanken (hebräisch: Hirhure Awera), denn es heißt: Und Schimschon sprach zu seinem Vater: Nimm mir diese (Tochter der Pelischtäer), denn sie ist recht in meinen Augen (Richter 14,3)« (Berachot 12b).

KODEX Häresie und Sündengedanken sind also verboten! Damit keine Missverständnisse aufkommen, sei bemerkt, dass jeder dieser zwei Begriffe auf ganz verschiedene Dinge zu beziehen ist. Minut umfasst alle Überlegungen, die ein Grundprinzip der Tora in Zweifel ziehen. In seinem religionsgesetzlichen Kodex (Hilchot Awodat Kochawim 2,3) bringt Maimonides, der dieses Gedankenverbot als eines der 365 negativen Toragebote zählt (Nr. 47), mehrere Beispiele. Hirhure Awera meint in erster Linie Gedanken über eine unerlaubte sexuelle Tätigkeit, aber wir kennen auch andere verbotene Handlungen, die einem ebenfalls in den Sinn kommen können.

Der Verfasser von »Sefer HaChinuch« bezeichnet die hier besprochene Mizwa (Nr. 387 in seinem Werk) als eine wichtige Grundlage der jüdischen Religion. Warum verbietet die Tora bestimmte Gedanken? Weil solche Spekulationen oder Überlegungen zu falschen Schlüssen und zu verbotenen Verhaltensformen führen werden. Wer sich in Minut-Gedanken beziehungsweise in Hirhure Awera vertieft, bricht Gott die Treue.

Rabbiner Samson Raphael Hirsch erklärte: »Herzens- und Augendienst verträgt sich nicht mit dem Dienste Gottes!« Wie Maimonides und andere Autoren bemerken, bekommt eine Person, die in Gedanken sündigt, nicht die für Übertretung eines negativen Gebots vorgesehene Prügelstrafe; denn diese Bestrafung erfolgt nur nach einer Handlung (und Überlegungen werden nicht als eine solche bewertet).

BELOHNUNG In seinem hebräischen Werk Orach Mescharim (Mainz 1878) führt Rabbiner Menachem Treves aus, dass Übertritte dieses Verbots zwar nicht bestraft werden, wohl aber werden diejenigen belohnt, die der verspürten Versuchung widerstanden haben. Mehrere Kommentatoren haben die Frage aufgeworfen, ob man Hirhure Awera überhaupt vermeiden kann.

Steht doch im Talmud: »Rav Amram sagte im Namen Ravs: Drei Sünden sind es, denen ein Mensch keinen Tag entgeht – Gedanken der Sünde, Nebengedanken beim Gebet und Verleumdung« (Baba Batra 164b). Uns interessiert hier nur die erste der drei genannten Sünden: Nachdenken über eine bestimmte Sünde. Sind demnach alle Menschen schlimme Sünder?

Das ist gewiss nicht der Fall! Das Verbot von Hirhure Awera bezieht sich nämlich gar nicht auf Überlegungen, die einem Mann oder einer Frau spontan kommen. Erst der Ausbau eines Einfalls, die Planung einer verbotenen Handlung, macht die Sünde aus. Eine Bestätigung dieser Interpretation finden wir in folgender Aussage von Rabbi Ami: »Wer sich zu sündhaften sexuellen Gedanken bringt, der kommt nicht in die Umfriedung des Heiligen, gepriesen sei Er« (Nidda 13b). Doch im Alltag ist folgende Frage nicht zu umgehen: Was sollte jemand tun, wenn in seinen Überlegungen plötzlich die Möglichkeit einer Sünde auftaucht?

PSYCHOANALYSE Rabbenu Bachja Ben Ascher rät zu einer inneren Auseinandersetzung mit diesem Gedanken, um dadurch die Weiterentwicklung zu einer Handlung abzublocken. Diese Vorgehensweise erinnert uns an die psychoanalytische Arbeit, die eine unbewusste Verdrängung eines Impulses durch die bewusste Verurteilung zu ersetzen sucht.

Auch wenn man, wie bereits gesagt, für sündhafte Gedanken nicht bestraft wird, so ist in einem solchen Fall doch ein Prozess der Teschuwa (Umkehr) angebracht. Maimonides machte darauf aufmerksam, dass die meisten Menschen die Schwere des Sündigens in Gedanken unterschätzen; irrtümlich meinen viele Leute, sie hätten kein Unrecht begangen (Hilchot Teschuwa 4,4). Ein Vers im Schma-Gebet erinnert uns regelmäßig an die Tatsache, dass Minut-Gedanken und Hirhure Awera folgenreiche Sünden sind!

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