Selichot

Im letzten Drittel der Nacht

Die Selichot stimmen auf die Hohen Feiertage ein und bereiten auf die zehn Tage der Reue vor. Foto: Flash 90

Über den Brauch der Selichot, der Bußgebete vor Rosch Haschana, steht im Talmud geschrieben: »›Und G’tt ging vor seinem (Mosches) Gesicht, und Er rief (…).‹ Rabbi Johanan lehrte: Wäre dies nicht in der Tora geschrieben, wäre es unmöglich, so etwas zu sagen. (Denn) dies lehrt uns, dass der Heilige sich wie ein ›Schaliach Zibbur‹ (Vorbeter) (in einen Tallit) hüllte und Mosche den Gebetsdienst demonstrierte. Er sagte zu ihm: ›Wenn die Israeliten sündigen, sollen sie vor Mir einen solchen Dienst verrichten, und Ich werde ihnen vergeben‹« (Rosch Haschana 17b).

ASCHMORET Im Schulchan Aruch (Orach Chaim 581) wiederum steht: »Es ist üblich, während der ›Aschmoret‹-Zeit, also dem letzten Drittel der Nacht, aufzuwachen, um Selichot und Bittgebete vom Anfang des Monats Elul bis zum Jom Kippur zu rezitieren.«

Dazu fügt der Rama, Rabbi Moses Isserles (1530–1572), der die Halacha für den aschkenasischen Raum bestimmte, einen Kommentar hinzu: »Der Brauch der aschkenasischen Juden ist nicht wie oben erwähnt, sondern vielmehr (während des Monats Elul), den Schofar nach dem Morgengebet zu blasen … und am Sonntag vor Rosch Haschana während Aschmoret aufzuwachen. In dem Fall, dass Rosch Haschana auf einen Montag oder Dienstag fällt, beginnen wir mit dem Sonntag der vorherigen Woche.«

Sefardische Juden rezitieren während des gesamten Monats Elul die Bußgebete.

In gewisser Weise ist die aschkenasische Praxis eine Erweiterung des Brauchs, der von Maimonides, dem Rambam (1135–1204) in Hilchot Teschuwa (3, Halacha 4) erwähnt wird: »Es ist jedermanns Brauch, in der Nacht während der zehn Tage (zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur) zu erwachen und Bittgebete und Worte des Erwachens bis zum Einbruch des Tageslichts zu beten.«

Die aschkenasische Praxis fügt mindestens vier Tage hinzu. Diese vier Tage sind, wie die Mischna Brura erklärt, dazu gedacht, die vier Tage zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur, in denen wir nicht fasten dürfen, zu ersetzen – da es Brauch ist, während der Aseret Jemei Teschuwa, der zehn Bußtage, zu fasten.

Da man aber an den zwei Tagen von Rosch Haschana, an Schabbat Teschuwa, dem Schabbat zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur, sowie am Vorabend von Jom Kippur nicht fasten darf, fügen wir vier Tage vor Rosch Haschana hinzu, um diese zu ersetzen. In gewisser Weise ist also die Rezitation von Selichot eine Form des Beginns der Tage der Ehrfurcht. Die Sefarden rezitieren hingegen während des gesamten Monats Elul Selichot als eine Form der Vorbereitung auf Rosch Haschana.

Das gründliche Studium des Schulchan Aruch und der Schriften des Rambam lehrt uns, die Selichot nachts zu rezitieren. Idealerweise sollen sie während der »Aschmoret«-Zeit, dem letzten Drittel der Nacht, als ein Vorgebet zum Morgengebet gesprochen werden. Wenn es zu dieser Zeit nicht möglich ist, gilt: Entscheidend ist, dass man die Selichot in der Nacht rezitiert.

Vorzugsweise sollten sie nach Mitternacht gesprochen werden, um kabbalistische Probleme zu vermeiden, die mit dem Rezitieren des Tachanun (das ein Teil des Inhaltes der Selichot ist) in der Nacht, insbesondere in der ersten Hälfte der Nacht, verbunden sind (Schulchan Aruch Orach Chaim 131,3, Mischna Berura Kommentare 16, 18–19). Selichot werden auch deshalb idealerweise während der »Aschmoret«-Zeit rezitiert, weil sie in die Morgengebete einfließen und als Vorbereitung auf diese dienen können.

Sowohl die Idee des nächtlichen Gebets als auch das Rezitieren eines Gebets zur Vorbereitung auf das Morgengebet und insbesondere das Morgengebet selbst scheinen einen gemeinsamen Zweck zu haben: Die Selichot sollen ein Erwachen zur Teschuwa, zur Reue, sein. Indem wir sie dem Morgengebet beifügen, stellen wir fest, dass es einen Akt der Vorbereitung für eine idealere Anbetung G’ttes geben muss.

NACHTGEBET Ebenso bringen wir durch die Einführung eines besonderen Gebets die Anbetung des Allmächtigen in die Nacht. Die Nacht steht für eine Zeit der Zweifel und Verwirrung, eine Zeit, in der das Selbstvertrauen des Menschen am Tiefpunkt ist. Die Nacht ist die Zeit, in der wir G’tt anrufen, damit Er uns führt. Die Selichot erinnern daran, dass wir uns, wenn wir gesündigt haben, gewissermaßen in einer Nachtzeit des Lebens befinden, G’tt anrufen müssen, dass Er uns leite und uns bei der Rückkehr zu Ihm helfen möge.

Die Selichot sollten in jedem Fall nach Mitternacht gesprochen werden.

Wie wir gesehen haben, gibt es bei den Selichot zwei Aspekte: ein Element des Nachtgebets und eines des Vormorgengebets. Daher gibt es für den Fall, dass Selichot in der zweiten Hälfte der Nacht nicht rezitiert werden können, eine halachische Debatte, ob wir die Nähe von Selichot dem Morgengebet vorziehen sollten, obwohl sie dann am Morgen und nicht in der Nacht rezitiert werden. Oder sollten wir lieber die Selichot nachts rezitieren, obwohl sie dem Morgengebet nicht unmittelbar vorausgehen?

STRUKTUR Der Levusch stellt fest, dass die Reihenfolge des Selichot-G’ttesdienstes sowohl in den aschkenasischen als auch in den sefardischen Gemeinden der Struktur des täglichen Gebetg’ttesdienstes entspricht. Es beginnt mit Aschrei, gefolgt von Kaddisch, endet mit Nefillat Apaim und Kaddisch Titkabel, und das, was wir in der Mitte rezitieren, ähnelt dem Gebet von Schemone Esrei, der Amida. Die beiden zentralen und wichtigsten Teile des Abschnitts, der der Amida ähnelt, sind die 13 Attribute der Barmherzigkeit des Allmächtigen und das Viddui (Geständnis).

In jedem Fall stimmen uns die Selichot auf die Hohen Feiertage ein und bereiten uns vor auf die zehn Tage der Reue – und damit auf die Möglichkeit zur Umkehr – zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur.

Der Autor ist Rabbiner der Synagogengemeinde Konstanz und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz (ORD).

Mezora

Die Reinheit zurückerlangen

Die Tora beschreibt, was zu tun ist, wenn Menschen oder Häuser von Aussatz befallen sind

von Rabbinerin Yael Deusel  18.04.2024

Tasria

Ein neuer Mensch

Die Tora lehrt, dass sich Krankheiten heilsam auf den Charakter auswirken können

von Yonatan Amrani  12.04.2024

Talmudisches

Der Gecko

Was die Weisen der Antike über das schuppige Kriechtier lehrten

von Chajm Guski  12.04.2024

Meinung

Pessach im Schatten des Krieges

Gedanken zum Fest der Freiheit von Rabbiner Noam Hertig

von Rabbiner Noam Hertig  11.04.2024

Pessach-Putz

Bis auf den letzten Krümel

Das Entfernen von Chametz wird für viele Familien zur Belastungsprobe. Dabei sollte man es sich nicht zu schwer machen

von Rabbiner Avraham Radbil  11.04.2024

Halacha

Die Aguna der Titanic

Am 14. April 1912 versanken mit dem berühmten Schiff auch jüdische Passagiere im eisigen Meer. Das Schicksal einer hinterbliebenen Frau bewegte einen Rabbiner zu einem außergewöhnlichen Psak

von Rabbiner Dovid Gernetz  11.04.2024

Berlin

Koscher Foodfestival bei Chabad

»Gerade jetzt ist es wichtig, das kulturelle Miteinander zu stärken«, betont Rabbiner Yehuda Teichtal

 07.04.2024

Schemini

Äußerst gespalten

Was die vier unkoscheren Tiere Kamel, Kaninchen, Hase und Schwein mit dem Exil des jüdischen Volkes zu tun haben

von Gabriel Rubinshteyn  05.04.2024

Talmudisches

Die Kraft der Natur

Was unsere Weisen über Heilkräuter lehren

von Rabbinerin Yael Deusel  05.04.2024