Talmudisches

Hühnchen teilen

Wie der Sohn eines Kaufmanns an sein Erbe kam

von Noemi Berger  09.07.2021 08:31 Uhr

»Ich nahm mir den Rumpf, der dem Rumpf eines Schiffes gleicht. Denn mit einem Schiff traf ich hier ein, und auf einem Schiff werde ich wieder abfahren«: So sprach der Sohn des Kaufmanns zu seinen Gastgebern. Foto: Getty Images

Wie der Sohn eines Kaufmanns an sein Erbe kam

von Noemi Berger  09.07.2021 08:31 Uhr

In talmudischer Zeit entstanden viele aggadische Midraschim, also nichthalachische Auslegungen. So lesen wir in Echa Rabbati 1,4 von den drei Prüfungen eines Erben.

Ein Jerusalemer Kaufmann zog in eine fremde Stadt. Unterkunft fand er im Hause seines Freundes. Für den Fall, dass er sterben würde, vertraute er seinen Besitz dem Freund an und sprach: »Wenn mein Sohn aus Jerusalem zu dir kommt und dir drei Proben seiner Weisheit gibt, so übergib ihm sein Erbe.« Und der Mann starb. Mit den Einwohnern der Stadt aber wurde ausgemacht, dass keinem Fremden die Wohnung jenes Freundes gezeigt werden sollte.

LIST Als der Sohn in der Stadt eintraf, versuchte er herauszufinden, wo der Freund seines Vaters wohnte. Er klopfte an viele Türen, doch niemand wollte ihm Auskunft geben. Was tun? Er musste eine List anwenden. Als er einem Mann begegnete, der Holz auf seiner Schulter trug, fragte er ihn: »Willst du mir das Holz verkaufen?« Der Mann antwortete: »Gern.« Da sprach der Fremde: »So nimm hier den Preis dafür und trag das Holz bis zum Haus des Mannes Soundso.«

Der Holzhauer nahm das Geld und trug das Holz zu jenem Haus. Der Sohn aber ging hinter ihm her. Der Hausherr öffnete die Tür, und der Holzfäller sagte, er möge das Holz in Empfang nehmen. »Was soll ich mit dem Holz?«, fragte der Hausherr. »Habe ich dir gesagt, dass du mir welches bringen sollst?« Der Träger sprach: »Es gehört ja auch nicht dir, sondern dem Mann, der mir gefolgt ist.« Darauf öffnete der Hausherr dem Fremden die Tür. Das aber war die erste Weisheitsprobe.

Als der Hausherr nach dem Namen des jungen Mannes fragte, gab sich der Besucher als Sohn jenes Mannes zu erkennen, dessen Vater in seinem Haus gestorben war. Der Besitzer lud daraufhin den Fremdling zum Essen ein. Er hatte aber zwei Söhne und zwei Töchter. Bei Tisch wurden fünf Hühner auf einem silbernen Tablett serviert. Der Hausherr bat den Jüngling, das Fleisch auszuteilen. Doch dieser weigerte sich, denn die Ehre gebühre doch dem Hausherrn. Jener aber bestand darauf.

Bei Tisch wurden fünf Hühner auf einem silbernen Tablett serviert. Der Hausherr bat den Jüngling, das Fleisch auszuteilen.

Da teilte der Jüngling die Hühner: Eines gab er dem Hausherrn und seiner Frau, das zweite den beiden Söhnen, das dritte den beiden Töchtern, und die beiden übrigen Hühner tat er auf seinen Teller. Alle verzehrten ihre Mahlzeit, ohne ihm ein Wort zu sagen. Das war die zweite Weisheitsprobe.

GANS Am Abend wurde bei Tisch eine gemästete Gans aufgetragen. Wieder forderte der Hausherr den Fremden auf, das Fleisch zu teilen, und wieder weigerte sich dieser zunächst, bevor er sich dem ausdrücklichen Willen des Familienoberhaupts fügte. Die Gans teilte er so auf: Den Kopf gab er dem Mann, die Innereien der Frau, die Keulen den Söhnen, die Flügel den beiden Töchtern; und den ganzen Rumpf nahm er für sich. Das war die dritte Probe seiner Weisheit.

Nun konnte sich der Hausherr nicht mehr zurückhalten und sprach: »Beim ersten Verteilen habe ich dir nichts gesagt, und nun tust du wieder das Gleiche?« Der Fremde antwortete: »Ich hatte dich gebeten, selbst zu teilen, da du der Hausherr bist. Doch wisse, ich habe schon richtig geteilt: Das erste Mal wurden fünf Hühner aufgetischt. Du und deine Frau seid zwei und dazu ein Huhn, das macht drei. Die beiden Söhne und ein Huhn, das macht ebenfalls drei. Die beiden Töchter und ein Huhn, das macht wieder drei. Ich aber bin nur einer und zwei Hühner dazu. Das macht wieder drei. Habe ich also etwas von dem genommen, was euch zugestanden hätte?«

»Heute Abend hatte ich eine Gans zu teilen. Dir gab ich den Kopf, denn du bist das Oberhaupt des Hauses. Deiner Frau gab ich die Innereien, denn von innen kommen die Kinder hervor. Die Söhne erhielten die Keulen, denn sie sind die Säulen des Hauses; die Töchter wiederum die Flügel, weil sie, wenn sie heiraten, fortfliegen aus deinem Haus. Ich aber nahm mir den Rumpf, der dem Rumpf eines Schiffes gleicht. Denn mit einem Schiff traf ich hier ein, und auf einem Schiff werde ich wieder abfahren. Und nun, händige mir das Vermögen aus, das dir mein Vater zu treuen Händen übergeben hat, und ich mache mich auf den Heimweg.«

Der Hausherr gab dem Erben, was diesem zukam, und jener ging in Frieden.

Essen

Was gehört auf den Sederteller?

Sechs Dinge, die am Pessachabend auf dem Tisch nicht fehlen dürfen

 23.04.2024

Korban Pessach

Schon dieses Jahr in Jerusalem?

Immer wieder versuchen Gruppen, das Pessachopfer auf dem Tempelberg darzubringen

von Rabbiner Dovid Gernetz  22.04.2024

Pessach

Kämpferinnen für die Freiheit

Welche Rolle spielten die Frauen beim Auszug aus Ägypten? Eine entscheidende, meint Raschi

von Hadassah Wendl  22.04.2024

Essen

Was gehört auf den Sederteller?

Sechs Dinge, die am Pessachabend auf dem Tisch nicht fehlen dürfen

 23.04.2024

Mezora

Die Reinheit zurückerlangen

Die Tora beschreibt, was zu tun ist, wenn Menschen oder Häuser von Aussatz befallen sind

von Rabbinerin Yael Deusel  18.04.2024

Tasria

Ein neuer Mensch

Die Tora lehrt, dass sich Krankheiten heilsam auf den Charakter auswirken können

von Yonatan Amrani  12.04.2024

Talmudisches

Der Gecko

Was die Weisen der Antike über das schuppige Kriechtier lehrten

von Chajm Guski  12.04.2024

Meinung

Pessach im Schatten des Krieges

Gedanken zum Fest der Freiheit von Rabbiner Noam Hertig

von Rabbiner Noam Hertig  11.04.2024

Pessach-Putz

Bis auf den letzten Krümel

Das Entfernen von Chametz wird für viele Familien zur Belastungsprobe. Dabei sollte man es sich nicht zu schwer machen

von Rabbiner Avraham Radbil  11.04.2024