Mizwa

Gleichgewicht der Schöpfung

Wer nimmt, gibt genauso viel wie derjenige, der gibt. Nur der Weg des Gebens ist ein anderer

von Rabbiner Yehuda Teichtal  20.02.2017 15:42 Uhr

Damit ich geben kann, muss jemand nehmen können: So beginnt der Tanz aller Existenz, in dem jedes Geschöpf etwas zu geben hat und jedes etwas benötigt. Foto: Thinkstock

Wer nimmt, gibt genauso viel wie derjenige, der gibt. Nur der Weg des Gebens ist ein anderer

von Rabbiner Yehuda Teichtal  20.02.2017 15:42 Uhr

Einst kam ein Mann zu seinem jüdischen Nachbarn und fragte, ob er dessen Esel ausleihen dürfe. Der Jude traute diesem Nachbarn nicht, dass er den Esel zurückbringen würde, wenn er ihn wieder bräuchte, und so sagte er: »Tut mir leid, aber ich habe den Esel bereits einem Freund geliehen.« Just in diesem Moment brüllte der Esel laut aus seinem Stall. Der Nachbar beschwerte sich: »Aber ich höre ihn doch da drüben schreien!« Der Jude richtete sich zu seiner vollen Größe auf und sagte: »Wem glauben Sie mehr – mir oder einem Esel?«

In unserem Wochenabschnitt geht es um die Mizwa des Geldverleihens. Wie betrachten wir die Erfahrung des Gebens und Nehmens in der Gesellschaft? Aus einer pragmatischen Perspektive betrachtet, gibt der Darlehensgeber, und der Darlehensnehmer nimmt. Aus spirituellem Blickwinkel betrachtet, geben jedoch beide einander gleich viel.

Beziehungen Unser ganzes Leben dreht sich um das Bekommen und Schenken. Niemand ist allein auf der Welt. Alles ist miteinander verbunden, steht miteinander in Beziehungen von Geben und Nehmen: männlich und weiblich, Gehirn und Körper, Liebender und Geliebter, Himmel und Erde, Beute und Jäger, Eltern und Nachkommen, Hersteller und Verbraucher, Philanthrop und Bettler, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Sonne und Mond.

Wenn Ihre Waschmaschine kaputtgeht und Sie den Mechaniker rufen, dann sind Sie der Nehmende, und der Mechaniker ist der Gebende. Er mag arm sein und Sie ein Millionär. Aber wenn es darum geht, eine Maschine zu reparieren, haben Sie zwei linke Hände und brauchen ihn.

Und wenn jemand in Not Sie um ein Darlehen bittet oder ein Unternehmer Sie anruft, damit Sie in seine neue Firma investieren, dann sind Sie aufgerufen, der Gebende zu sein, und er ist der Nehmende. Jeder kann etwas geben, sei es Geld oder Zeit, sei es ein Lächeln, Wärme oder ermutigende Worte. Und jeder braucht etwas.

Verteilung König David konnte nicht verstehen, warum unsere Welt in arm und reich aufgeteilt ist. Er bat G’tt: »Meister des Universums, lass alle in Gleichheit vor Dir sitzen, sowohl die Armen als auch die Reichen. Lass alle Menschen die gleichen Mittel zur Verfügung haben.« Was für eine Vorstellung – Tausende Jahre vor Karl Marx!

G’tt antwortete König David: »Wenn dies so wäre, wer würde dann die Güte und die Liebe bewahren?« König David hatte eine gute Frage gestellt. Es war nicht nur eine Frage nach materiellem Reichtum, denn in jedem Aspekt des Lebens gibt es Reiche und Arme. Wir alle kennen Menschen, die nicht viel Geld haben, aber reich an vielem anderen sind, während es wiederum sehr reiche Menschen gibt, die Schwierigkeiten und Defizite haben. Es hat auf dieser Welt eben jeder »sein Päckchen zu tragen«.

G’tt antwortet David, dass es unsere Aufgabe ist, Gebende zu werden. So wie Er gibt, sollen auch wir geben. So erreichen wir unser Potenzial, G’tt zu reflektieren, Der immer gibt, erschafft und hervorbringt. Wenn alle alles haben würden, dann gäbe es kein Geben mehr in unserer Welt. Jeder Mensch muss geben, denn jedem Menschen fehlt etwas, das er bekommen muss. Und jeder Mensch hat irgendetwas, das er geben kann.

Armut Aber warum muss dieser Mensch arm sein, und ich bin reich? Warum muss ich diese Schwierigkeiten haben und der andere nicht? Wir wissen es nicht. Doch was wir wissen, ist: Wenn ich etwas habe, was andere nicht haben, dann weiß ich, dass es mir als Geschenk gegeben wurde, damit ich ihnen davon abgeben kann.

Jeder von uns muss versuchen, die Lage seiner Mitmenschen so weit wie möglich zu verbessern. Wir müssen geben, geben und nochmals geben – aber es gibt immer auch einen Bereich, in dem wir selbst Hilfe und Unterstützung benötigen. Damit ich geben kann, muss jemand nehmen können. Einem muss etwas fehlen. So beginnt der Tanz aller Existenz, in dem jedes Geschöpf etwas zu geben hat und jedes etwas benötigt.

Aus der g’ttlichen Perspektive hat das Nehmen eine ebenso zentrale Bedeutung für den g’ttlichen Willen wie das Geben, denn es ist der Empfänger, der es dem Gebenden erlaubt, zu geben. Somit ist paradoxerweise der Nehmende der eigentlich Gebende, denn er bietet jemand anderem die Gelegenheit, dem Schöpfer Zufriedenheit zu schenken, indem er den Sinn der Schöpfung erfüllt.

Perspektive Geben und Nehmen sind von zentraler Bedeutung für die Dynamik der Schöpfung. Aus einer tiefgründigeren Perspektive gibt man beim Nehmen genauso viel wie derjenige, der gibt. Nur der Weg des Gebens ist anders: Einige geben durchs Geben, und andere geben, indem sie nehmen und es dem Gebenden ermöglichen, zu geben.

Was G’tt angeht, so ist Armut eine andere Form des Reichtums, Unvollkommenheit eine andere Form der Vollkommenheit, Dunkelheit nur eine andere Form des Lichts. Es muss sich niemand schämen. Der Gebende und der Empfangende, der Verleiher und der Leihende sind gleichwertige Partner im Entwurf der Schöpfung. Sie sind gleichermaßen im ultimativen Entwurf der Existenz miteinander verbunden.

Die Botschaft ist klar: Diejenigen von uns, die das Glück haben, geben zu können – gemeint ist dabei jede Form des Gebens –, dürfen niemals arrogant werden. Und diejenigen von uns, die aufgerufen worden sind, zu nehmen – gemeint ist jede Form des Nehmens –, müssen nicht verzweifeln und dürfen es nicht zulassen, bloßgestellt und ihrer Würde beraubt zu werden. Am Ende sind wir alle gleich. Das ganze Leben ist ein Tanz des Gebens und Nehmens.

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.


Inhalt
Der Wochenabschnitt Mischpatim wird auch als Buch des Bundes bezeichnet. Hier geht es um Gesetze, die das Zusammenleben regeln. Der zweite Teil besteht aus Regelungen zur Körperverletzung, daran schließen sich Gesetze zum Eigentum an. Den Abschluss der Parascha bildet die Bestätigung des Bundes. Am Ende steigen Mosche, Aharon, Nadav, Avihu und die 70 Ältesten Israels auf den Berg, um den Ewigen zu sehen.
2. Buch Mose 21,1 – 24,18

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