Auslegung

Gesichter der Nacht

Das Auffälligste in Paraschat Mikez sind Pharaos Träume und ihre Deutung durch Josef. Wie viel Aufmerksamkeit die Tora den Träumen beimisst, die mit Josef in Zusammenhang stehen! Zunächst lesen wir von Josefs eigenen Träumen. Er träumt, wie er und seine Brüder Garben binden, und alle Garben verneigen sich vor seiner Garbe. Später träumt er, wie sich die Sonne, der Mond und elf Sterne vor ihm verbeugen. Die Deutung dieser Träume scheint klar, aber gerade weil diese Träume keiner großen Erklärung bedürfen, ist es umso erschreckender, dass Josef seinen Brüdern sofort davon erzählt. Verständlicherweise sind sie nicht begeistert.

Das zweite Mal, dass Josef mit Träumen zu tun hat, ist im ägyptischen Gefängnis. Da erzählen ihm zwei Mitgefangene von ihren Träumen, und Josef deutet sie. Die Deutungen gehen in Erfüllung: Der eine Träumer kommt frei, der andere wird gehängt. In unserer Parascha träumt der Pharao. Er ist über seinen Traum derart beunruhigt, dass er aus dem ganzen Land Wahrsager und Weise kommen lässt. Zufrieden ist Pharao mit ihren Auslegungen nicht. Erst Josef schafft es, dem Pharao die Bedeutung seines Traumes zu erklären.

Seine eigenen Träume deutet Josef nicht, er erzählt sie lediglich weiter. Als seine beiden Mitgefangenen träumen, merkt er an, dass die Deutung eigentlich bei G’tt läge. Sie könnten ihm ihre Träume aber ruhig erzählen (1. Buch Moses 40,8). Erst bei Pharao besteht er dreimal darauf, dass die Deutung allein von G’tt komme.

Kontakt In der Tat ist der Traum eine von G’tt bevorzugte Art, mit den Menschen in Kontakt zu treten. Wenn G’tt einem, der nicht zur Nachkommenschaft Avrahams zählt, etwas mitteilt, dann durch einen Traum. Beispiele hierfür sind Lavan, der Onkel von Jakov, dem G’tt im Traum sagt: »Hüte dich, mit Jakov anders als freundlich zu reden« (1. Buch Moses 31,24) und Bil’am, der Zauberer, den Balak einlädt, um Israel zu verfluchen (4. Buch Moses 22–24).

In späteren Zeiten bleibt die g’ttliche Rede durch Träume und deren Interpretation den Propheten vorbehalten. Im 5. Buch Moses 18, 10–11 werden einige Praktiken genannt, die Israel sich nicht von den Völkern der Umgebung abschauen solle, die Traumdeutung gehört nicht dazu. Wenn wir in der Zeit noch etwas weiter reisen, dann sehen wir, dass Traumdeutung in Babylonien gang und gäbe war.

Die Rabbinen des Talmuds versuchen, die Interpretationen der Träume in bestimmte Bahnen zu lenken, ihnen gewissermaßen ihren Stempel aufzudrücken. Im Traktat Brachot finden wir eine große Zahl an Interpretationsmaßstäben. Es ist genau festgelegt, welche Träume (oder sogar, welche Gegenstände in Träumen) was für eine Bedeutung für den Träumenden haben. Hierbei kann der Traum etwas über die Vergangenheit oder die Zukunft des Träumenden aussagen.

Zwei Beispiele: »Er sprach zu ihm: ›Ich sah meine Backen- und Schneidezähne ausfallen.‹ Darauf erwiderte er ihm: ›Deine Söhne und deine Töchter werden sterben‹« (bBer 56a). Hier handelt es sich um ein zukünftiges Ereignis. Im anderen Fall offenbart der Traum die Interpretation eines zurückliegenden Ereignisses. »Jener sprach: ›Ich sah Raben auf ihr Bett zurückkehren.‹ Dieser erwiderte: ›Deine Frau hat mit vielen Männern gebuhlt‹« (bBer 56b).

Die Interpretation von Träumen bleibt auch nach der talmudischen Lektüre ein vages Unterfangen. So vertritt Rav Chisda die Meinung, ein Traum gehe erst nach seiner Deutung in Erfüllung. »Ein Traum, der nicht gedeutet wird, gleicht einem Brief, der nicht gelesen wird« (bBer 55b).

Rav Bisna bar Savda ergänzt durch eine Erzählung, dass sich die Erfüllung des Traums nach der Auslegung richte. Bar Hadja zum Beispiel deutete Träume je nach Bezahlung. Abaje zahlte ihm Geld, und Raba zahlte nichts. Dementsprechend fiel die Deutung ein und desselben Traumes für den Zahlenden positiv und für den anderen negativ aus.

Wenn also Traumdeutung eine völlig subjektive Angelegenheit ist und Josef selbst die Deutung mal so und mal so handhabt, stellt sich die Frage, warum die Traumdeutung so wichtig ist. Bei Josef merkt man, dass er fast schon wahnhaft an der Erfüllung seiner Voraussagen arbeitet. Josef ist innerlich an seine Träume gebunden, er versucht alles, um sie wahr werden zu lassen.

dürre Der Traumauslegung des Pharao schließt sich unmittelbar ein Lösungsvorschlag für das Problem an. Getreide muss jahrelang gesammelt werden, um die schlechten Jahre zu überbrücken. Wäre die Dürre nicht gekommen, hätte sich wahrscheinlich niemand über einen falsch gedeuteten Traum beschwert, sondern die Episode wäre irgendwann vergessen worden.

Ähnlich verhält es sich mit Josefs zweitem Traum. Damit sich alle elf Sterne vor ihm verbeugen können, muss Benjamin nach Ägypten kommen. Es scheint schon fast eine fixe Idee, und das, obwohl der Mond in seinem Traum, der seine Mutter symbolisiert, sich nicht mehr verbeugen kann, denn sie ist tot, gestorben bei der Geburt seines jüngeren Bruders. Trotzdem versucht Josef, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um seinen Bruder zu ihm bringen zu lassen. Wäre es ihm um ein Wiedersehen mit dem Vater gegangen, hätte er andere, einfachere Möglichkeiten finden können. Zum Beispiel hätte er selbst reisen können.

Es stellt sich also nicht die Frage nach der Wichtigkeit der Deutung, sondern die nach der Bedeutung, die die Auslegung eines Traums für unser Leben hat. Wie viel Macht räumen wir diesen Dingen in unserem Leben und über unser Leben ein? Lassen wir uns davon versklaven, oder nehmen wir den Traum als das, was er eben auch ist: eine interessante Erfahrung auf einer anderen Bewusstseinsebene?

Der Autor ist rabbinischer Studienleiter des Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerks (ELES).

Inhalt
Der Wochenabschnitt Mikez erzählt von Träumen des Pharaos, die niemand an seinem Hof deuten kann – außer Josef. Er sagt voraus, dass nach sieben üppigen Jahren sieben Jahre der Dürre kommen, und empfiehlt Pharao, Vorräte anzulegen. Der Herrscher betraut ihn mit dieser Aufgabe. Dann heiratet Josef: Er nimmt Asnat, die Tochter des ägyptischen Oberpriesters, zur Frau. Sie bringt die gemeinsamen Söhne Efraim und Menasche zur Welt. Dann kommen wegen der Dürre in Kanaan Josefs Brüder nach Ägypten, um dort Getreide zu kaufen. Josef wirft ihnen vor, sie seien Kundschafter, und hält Schimon fest, während sie Benjamin holen sollen. Als die Brüder nach Ägypten zurückkehren, klagt er sie des Diebstahls an und hält Benjamin fest.
1. Buch Moses 41,1 – 44,17

Mezora

Die Reinheit zurückerlangen

Die Tora beschreibt, was zu tun ist, wenn Menschen oder Häuser von Aussatz befallen sind

von Rabbinerin Yael Deusel  18.04.2024

Tasria

Ein neuer Mensch

Die Tora lehrt, dass sich Krankheiten heilsam auf den Charakter auswirken können

von Yonatan Amrani  12.04.2024

Talmudisches

Der Gecko

Was die Weisen der Antike über das schuppige Kriechtier lehrten

von Chajm Guski  12.04.2024

Meinung

Pessach im Schatten des Krieges

Gedanken zum Fest der Freiheit von Rabbiner Noam Hertig

von Rabbiner Noam Hertig  11.04.2024

Pessach-Putz

Bis auf den letzten Krümel

Das Entfernen von Chametz wird für viele Familien zur Belastungsprobe. Dabei sollte man es sich nicht zu schwer machen

von Rabbiner Avraham Radbil  11.04.2024

Halacha

Die Aguna der Titanic

Am 14. April 1912 versanken mit dem berühmten Schiff auch jüdische Passagiere im eisigen Meer. Das Schicksal einer hinterbliebenen Frau bewegte einen Rabbiner zu einem außergewöhnlichen Psak

von Rabbiner Dovid Gernetz  11.04.2024

Berlin

Koscher Foodfestival bei Chabad

»Gerade jetzt ist es wichtig, das kulturelle Miteinander zu stärken«, betont Rabbiner Yehuda Teichtal

 07.04.2024

Schemini

Äußerst gespalten

Was die vier unkoscheren Tiere Kamel, Kaninchen, Hase und Schwein mit dem Exil des jüdischen Volkes zu tun haben

von Gabriel Rubinshteyn  05.04.2024

Talmudisches

Die Kraft der Natur

Was unsere Weisen über Heilkräuter lehren

von Rabbinerin Yael Deusel  05.04.2024