Jom Kippur

Essen vor dem Fasten

Kurz vor Jom Kippur sollte anständig gegessen werden – also nicht nur eine Olive. Foto: Thinkstock

Eine wichtige jüdische Quelle, der Tur (Orach Chaim 604), erklärt: »Dies (das Essen an Erew Jom Kippur) resultiert aus Seiner großen Liebe zu Seinem Volk, denn Er hat ihnen befohlen, nur einen Tag im Jahr zu fasten – zu ihrem Nutzen, damit ihre Sünden gesühnt werden können. Er befahl ihnen, zuerst zu essen und zu trinken, damit sie fasten können und damit die Leiden (des Fastens) ihnen nicht schaden.«

Es gibt eine sehr interessante und ungewöhnliche Mizwa (Gebot), derer sich nicht viele bewusst sind, nämlich am Erew Jom Kippur (Vortag von Jom Kippur) möglichst viel zu essen. In einigen Passagen stellt die Gemara fest, dass es nicht nur eine Mizwa ist, an Jom Kippur zu fasten, sondern auch eine Mizwa, am Tag vor Jom Kippur zu essen.

KASTEIEN Die Quelle für diese Mizwa scheint der Talmud aus einem Vers im Wochenabschnitt Emor (3. Buch Mose 23,32) abzuleiten, der gebietet, dass wir bereits am neunten Tischi mit dem »inui« (dem »Leiden beziehungsweise Kasteien«) beginnen: »Dieser Tag ist für euch ein vollständiger Ruhetag. Ihr sollt euch kasteien. Vom Abend des neunten Tags in diesem Monat bis zum folgenden Abend sollt ihr Ruhetag halten.«

Da das Fasten von Jom Kippur erst am zehnten Tischri anfängt, bezieht sich dieser Vers offensichtlich auf einen Aspekt des Tages, der bereits am neunten Tischri beginnen soll. Die Gemara bestimmt, dass es jedem, der am neunten Tischri isst, so angerechnet wird, als ob er sowohl am neunten als auch am zehnten gefastet hätte.

Die meisten Rischonim (Rabbiner des Mittelalters) behaupten, dass diese Mizwa Deoraita, also biblischen Ursprungs ist und auf der oben erwähnten Ableitung aus dem Vers basiert. Der Kesef Mischneh (Hilchot Nedarim, Kap. 3) legt jedoch nahe, dass diese Mizwa nur ein rabbinisches Dekret ist, während der Vers lediglich als eine Asmachta (Andeutung im biblischen Text) dient.

Eine interessante Frage über die Natur der Mizwa ergibt sich aus Raschis verschiedenen Erklärungen dieses Gesetzes. Sowohl im Traktat Berachot (8b) als auch im Traktat Yoma (81b) erklärt Raschi, dass der Zweck der Mizwa des Essens am neunten Tag darin besteht, Juden dabei zu helfen, sich auf das bevorstehende Fasten am Zehnten des Monats vorzubereiten. Die Mizwa sollte als integraler Aspekt des Fastens selbst angesehen werden, also als eine Art Vorstufe des erfolgreichen Fastens.

Die Mizwa sollte als integraler Aspekt des Fastens selbst angesehen werden, also als eine Art Vorstufe des erfolgreichen Fastens.

Raschi – im Traktat Rosch Haschana (9b) –scheint jedoch die Mizwa des Essens an Erew Jom Kippur absolut und eigenständig zu definieren, unabhängig davon, wie beziehungsweise ob das Essen am Neunten das Fasten am nächsten Tag erleichtert. Diese Frage nach der eigentlichen Natur der Mizwa, an Erew Jom Kippur zu essen, könnte sich auf mehrere Fragen in Bezug auf ihre Ausführung auswirken.

FRAUEN Rabbi Akiwa Eiger (Responsa, 15) wiederum untersucht, ob Frauen verpflichtet sind, die Mizwa des Essens an Erew Jom Kippur zu erfüllen. Da die Mizwa auf den neunten Tischri beschränkt ist, könnte sie schließlich als »zeman gerama« (zeitgebundenes Gebot) definiert werden, die Art von Mizwa, von der Frauen gewöhnlich befreit sind. In einer alternativen Lesart – wenn die Mizwa Teil der Mizwa des Fastens am Zehnten ist und dazu gedacht ist, sich auf dieses Fasten vorzubereiten – könnten Frauen dieser Mizwa gleichermaßen wie die Männer verpflichtet sein, genauso wie sie zum Fasten selbst (am Jom Kippur) verpflichtet sind.

Obwohl die Gemara dieses Thema nicht direkt behandelt, könnte eine interessante Stelle in Gemara Sukka (28) unsere Frage beeinflussen. Die Gemara interpretiert das zusätzliche Wort »ha-Ezrach (Bürger)« (3. Buch Mose 16,29) so, dass es Frauen in die Verpflichtung von Tosefet Jom Kippur (die wenigen Minuten, die wir zum eigentlichen Fasten hinzufügen) einbezieht. Die Gemara befasst sich jedoch nicht mit der Frage, ob Frauen am neunten Tischri essen müssen oder nicht. Liegt dies daran, dass sie auch ohne zusätzliche Ableitung verpflichtet sind oder weil sie davon befreit sind (weil es zeman gerama ist) und diese Befreiung durch das Fehlen eines speziellen Verses, der sie ebenfalls einschließen sollte, angezeigt wird?

Zu dieser Gemara und der Frage nach der Verpflichtung von Frauen nahmen Kommentatoren unterschiedliche Positionen ein. Der Talmud Jeruschalmi (Ta’anit, Ende Kap. 2) berichtet, dass Frauen an folgenden Tagen das Fasten verboten ist: Schabbat, Jom Tow, Rosch Chodesch, Chanukka und Purim. Da diese Liste nicht Erew Jom Kippur enthält, scheint es, dass Frauen nicht formell verpflichtet sind, an Erew Jom Kippur zu essen.

NACHT Eine zweite Frage betrifft die Essenspflicht in der Nacht des neunten Tischri. Der Ran (Nedarim 63b) legt nahe, dass die Mizwa sowohl bei Nacht als auch bei Tag gilt, während Raschi (Ketubot 5a) anscheinend glaubt, dass die Mizwa nachts nicht gilt. Vermutlich hängt diese Frage ebenfalls von der Natur der Mizwa ab. Unter der Annahme, dass die Mizwa darauf ausgerichtet ist, uns auf das Fasten vorzubereiten, erfüllen wir sie möglicherweise nachts nicht, da das zu diesem Zeitpunkt gegessene Essen einem beim Fasten nicht unbedingt helfen würde.

Wenn wir jedoch den Status des neunten Tischri als separaten Jom Tow anerkennen, könnte die Mizwa des Essens tatsächlich in der Nacht zuvor beginnen, ähnlich wie bei allen anderen Jamim Towim. Tatsächlich schlugen viele Rabbiner vor, kein Tachanun (Trauergebet) während der Mincha des achten Tischri zu sagen, genauso wie wir sonst niemals Tachanun während der Mincha sagen, bevor ein Jom Tow in dieser Nacht beginnt.

Eine dritte damit verbundene Frage wäre, ob eine Person eine formelle Mahlzeit einschließlich Brot zu sich nehmen muss oder einfach alles essen kann, was ihr gefällt. Diese Frage wurde zuerst von Minchat Chinuch (Mizwa 313) aufgeworfen – sie könnte auch ein Produkt unserer grundlegenden Frage sein. Angenommen, die Mizwa dient nur der Vorbereitung auf das Fasten, dann bestehen wir vielleicht nicht auf einer zeremoniellen Mahlzeit, die mit Brot beginnt. Wenn wir jedoch den neunten Tischri als ein separates Jom Tow betrachten, sollte er alle Aspekte von Jom Tow umfassen, einschließlich des Beginns einer Mahlzeit mit Brot.

Der Autor ist Rabbiner der Synagogengemeinde Konstanz und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).

Tasria

Ein neuer Mensch

Die Tora lehrt, dass sich Krankheiten heilsam auf den Charakter auswirken können

von Yonatan Amrani  12.04.2024

Talmudisches

Der Gecko

Was die Weisen der Antike über das schuppige Kriechtier lehrten

von Chajm Guski  12.04.2024

Meinung

Pessach im Schatten des Krieges

Gedanken zum Fest der Freiheit von Rabbiner Noam Hertig

von Rabbiner Noam Hertig  11.04.2024

Pessach-Putz

Bis auf den letzten Krümel

Das Entfernen von Chametz wird für viele Familien zur Belastungsprobe. Dabei sollte man es sich nicht zu schwer machen

von Rabbiner Avraham Radbil  11.04.2024

Halacha

Die Aguna der Titanic

Am 14. April 1912 versanken mit dem berühmten Schiff auch jüdische Passagiere im eisigen Meer. Das Schicksal einer hinterbliebenen Frau bewegte einen Rabbiner zu einem außergewöhnlichen Psak

von Rabbiner Dovid Gernetz  11.04.2024

Berlin

Koscher Foodfestival bei Chabad

»Gerade jetzt ist es wichtig, das kulturelle Miteinander zu stärken«, betont Rabbiner Yehuda Teichtal

 07.04.2024

Schemini

Äußerst gespalten

Was die vier unkoscheren Tiere Kamel, Kaninchen, Hase und Schwein mit dem Exil des jüdischen Volkes zu tun haben

von Gabriel Rubinshteyn  05.04.2024

Talmudisches

Die Kraft der Natur

Was unsere Weisen über Heilkräuter lehren

von Rabbinerin Yael Deusel  05.04.2024

Sucht

Hör auf zu scrollen!

Wie kommen wir vom Handy los? Eine religiöse Sinnsuche

von Rabbiner David Kraus  05.04.2024