»Ich bin das allererste Mal hier und bin fasziniert.» Josef Schuster steht vor der Synagoge der kleinen Gemeinde Berkach in Süd-Thüringen. Heute gehört der 400-Einwohner-Ort zur Gemeinde Grabfeld, nahe der bayerischen Landesgrenze.
Während der DDR-Zeit war hier Sperrgebiet – und genau das war vermutlich ein Glücksfall für den kleinen jüdischen Friedhof am Rande des damaligen Dorfes, mitten zwischen Wiesen und Feldern gelegen. Noch heute sind dort 145 Grabsteine zu sehen. Der älteste stammt aus dem Jahr 1846.
KAcheln Josef Schuster betritt den schlicht-schönen Gebetsraum der Synagoge. Weiß-grüne Ornamente zieren als Kachelmuster die Wände. Die Fenster sind weiß gestrichen, eines lässt den Blick direkt zur christlichen Kirche des Ortes schweifen, 500 Meter Luftlinie entfernt. «Man hat hier früher eng nebeneinander gewohnt», erzählt Gundela Bach, die eigentlich aus dem Spreewald stammt und vor einigen Jahrzehnten nach Berkach kam. Das jüdische Leben hier, der Friedhof, die alte Synagoge und vor allem die Geschichte der Menschen hätten sie damals zunächst neugierig gemacht und im Laufe der Jahre immer mehr fasziniert.
Dabei ist es keine leichte Geschichte. Wo früher mindestens ein Drittel jüdische Familien mitten im Dorf, auch rund um den Pfarrhof, wohnten, klaffen heute Lücken: keine architektonischen, sondern menschliche. Nicht allen glückte 1938 die Flucht. Viele sind deportiert worden, auch Rosa und Rudolf Goldschmidt. Lediglich ihren beiden Söhnen gelang es, Deutschland rechtzeitig zu verlassen.
Schutzzölle Um 1700 ist die jüdische Gemeinde in Berkach entstanden, Schutzzölle und Abgaben mussten auch hier entrichtet werden, um ansässig zu bleiben. Die Zahl der hier lebenden Familien variierte später stark. Doch eines haben sie hinterlassen: ein einzigartiges, weil zusammenhängendes Ensemble und damit den Beleg für ein starkes Landjudentum dieser Region.
«Das Ensemble – wie hier in Berkach – mit Synagoge, Tauchbad, Schulgebäude, Friedhof in so engem Verbund, das ist etwas Besonderes.»
Zentralratspräsident Josef Schuster
Seit dem 17. Jahrhundert ließen sich Juden in dem Dorf nieder.
Und so lädt an jenem Tag der Bürgermeister des Ortes gemeinsam mit vielen Aktiven zu einem Rundgang ein. Es geht in abendlicher Dämmerung von der wieder geweihten Synagoge zur ehemaligen Mikwe. Noch heute ist das steinerne, überdachte Badehaus zu sehen. Früher konnte man von der Synagoge aus quer einen schmalen Weg dorthin nehmen. Noch heute ist der Ort eng bebaut, viele Höfe erinnern mit ihrem Fachwerk, den alten Scheunen und knorrigen Obstbäumen an eine Zeit, die bis 1933 eine glückliche gewesen sein muss für alle Bewohner des Ortes.
WENDE Das Dechiffrieren der Geschichte war auch in Berkach ein langer Prozess. Was nach der Wende 1989 vorsichtig begann, wurde vom steten Interesse von außen beflügelt. Immer wieder klopften fremde Menschen – vor allem bei Gundula Bach – an, um zu fragen, ob das ehemalige Wohnhaus der Vorfahren noch stand oder wo man mehr über sie erfahren könnte. Unzählige Male begleitete sie Menschen aus den USA, Israel und vielen anderen Ländern zum Friedhof und versuchte, im Ort Zeitzeugen von damals ausfindig zu machen und vielleicht auch manche Wunde auf diese Art zu heilen.
Fest steht auch, dass nicht allen Menschen des Ortes dieses Suchen nach Spuren der vergessenen Mitmenschen gefallen hat. Es gab auch grobe Reaktionen und beschämende Vorfälle.
Auch die Geschichte von Rosa und Rudolf Goldstein ist eine traurige. Die zuvor hoch angesehenen Bewohner des Ortes konnten zwar ihre beiden Söhne und sogar die Torarolle der Gemeinde in Sicherheit bringen, doch ihnen selbst misslang die Flucht. Sie waren Passagiere der «St.Louis», jenes Schiffes, das weder auf Kuba noch in den USA und Kanada anlegen durfte und so keinen rettenden Hafen fand. Es sollte eine glücklose Reise werden, die über Köln führte und später in Riga endete, wo sich Rosas und Rudolfs Spur verlor.
SPENDE Wer heute Berkach besucht, ist von der äußeren Schlichtheit des Synagogenbaus fasziniert. Im Inneren beeindrucken die filigrane Farbgebung, die Frauenempore und die helle, freundliche Atmosphäre. Gleich nebenan ist das ehemalige Schulgebäude keine vier Meter entfernt. Von Tür zu Tür konnte man sich einst bewegen. Heute kümmert sich der Verein «Jüdisches Ensemble Berkach» um dieses Gebäude. Viel zu lange lag es brach und war ohne Nutzen, immer wieder scheiterten Versuche, hier einen Ort für Bildung oder Kultur zu etablieren.
Thomas Meier ist Architekt und Vorsitzender des Vereins und darf sich nun über einen Spendenscheck in Höhe von 5000 Euro freuen. Der Zentralrat der Juden in Deutschland möchte damit einen Teil zur Sanierung beitragen.
Dass auch dem Land Thüringen dieser Ort mit seiner Geschichte ein großes Anliegen ist, hat Ministerpräsident Bodo Ramelow immer wieder betont. An diesem Tag kam Benjamin-Immanuel Hoff, der Landesbeauftragte für die Förderung jüdischen Lebens in Thüringen, nach Berkach.
Normalerweise sollte rund um diese Begegnungen ein weiterer Teil der neuen Tora für Thüringen öffentlich geschrieben werden. Seit 2019 ist der Sofer Reuven Jaacobov damit beauftragt. Doch viele der Termine können derzeit nicht stattfinden, zumindest nicht mit Publikum und Schulklassen, wie es sich die Organisatoren gewünscht hatten. Und dennoch wird dieses Themenjahr deutliche Zeichen setzen, jüdische Geschichte sichtbar machen, aber auch jüdisches Leben erzählen.
LANDJUDENTUM Dass es rund um Berkach, in Bibra und Bauerbach, um nur zwei weitere kleine Gemeinden zu nennen, ein reiches jüdisches Leben gab, davon bekommt man einen Eindruck, wenn man das Ehepaar Flossmann in Bibra trifft. Beide engagieren sich seit vielen Jahren für die jüdische Geschichte ihrer Region und sagen: «Das Landjudentum ist lange Zeit zu wenig beachtet worden.» Denn nicht nur in Berkach, auch im kleinen Ort Bauerbach gibt es, mitten zwischen hohen Bäumen gelegen, einen faszinierenden jüdischen Friedhof. Die Steine, viele davon verwittert, sind beeindruckend schön. Mehr als 360 sind noch erhalten, viele davon lesbar.
Übrigens: Auch von Friedrich Schiller wird gerne erzählt, dass er bei seinem längeren Aufenthalt einst in Bauerbach mit jüdischen Freunden verkehrte.
Als er gefragt wird, denkt Josef Schuster an diesem Abend in Berkach über das Landjudentum nach. Auch seine Vorfahren stammten aus dem benachbarten Unterfranken mit einem starken Landjudentum. «Es gab ja keine Region in Deutschland, in der, bezogen auf die Fläche, so viele jüdische Gemeinden waren wie speziell in Mainfranken.»
An jenem Abend sind in manch einem Fester des Berkacher Dorfes kleine Lichter zu sehen, als Josef Schuster durch die engen Gassen läuft. Kerzen in den Fenstern, an den Türen – auch das sei ein Zeichen von hier, sagt Thomas Meier, der Architekt, der sich jetzt um das Ensemble in Berkach kümmern möchte.