Monotheismus

Ein Volk als Lehrer

So wie dieser Lehrer Mathematik lehrt, soll Israel den Glauben an den einen G’tt vermitteln. Foto: Thinkstock

Das Ha’asinu-Lied nimmt in der Tora eine besondere Stellung ein. Es befasst sich mit dem sehr komplizierten Verhältnis zwischen dem Ewigen und dem jüdischen Volk und insofern mit den Beziehungen zwischen Israel und den anderen Völkern. Dass Israel von G’tt auserwählt wurde, hat die Weltgeschichte beeinflusst – und das tut es bis heute. Es gibt Menschen, die diese Auswahl für positiv halten und der Meinung sind, dass sie sich gut auswirkt auf die ganze Welt: Durch den Glauben des jüdischen Volkes an den einen G’tt haben die anderen Nationen mit dem Götzenkult aufgehört und sich dem Monotheismus zugewandt.

Der Rambam, Maimonides (1138–1204), schreibt: »Alle diese Belange des christlichen Jesu und des Ismailiters, der hinter ihm stand, dienen nichts anderem als einer Ebnung des Weges für den König, den Maschiach, und der Besserung der Welt, um dem Allmächtigen gemeinsam zu dienen« (Hilchot Melachim 11,4).

Die Erwählung des jüdischen Volkes kann jedoch auch für etwas Schlechtes gehalten werden – mögen wir davor bewahrt sein. Der Midrasch erklärt, warum der Berg Sinai, der Ort, an dem wir die Tora erhielten, Sinai heißt: »Von ihm ist die ›Sina‹ (deutsch: der Hass) auf die Götzenanbeter herabgestiegen, die das jüdische Volk um dessen Tora beneiden« (Pesikta Zutara, 2. Buch Mose 19,18). Die Erwählung des jüdischen Volkes durch den Allmächtigen hat nichts mit irgendeiner Art »Rassenlehre« zu tun oder der Bevorzugung eines Volkes gegenüber anderen. Vielmehr geht es darum, dass wir Juden uns wie unser Urvater Awraham verhalten sollen, der als Erster den Glauben an den einen G’tt verbreitete. Aus diesem Grund müssen wir auch nicht missionieren, sondern nur ein persönliches Beispiel liefern, von dem die anderen Völker lernen können.

Nicht nur einmal im Verlauf der Weltgeschichte geschah jedoch das Gegenteil. Statt beliebt zu sein als Volk, dem sich die Nationen anschließen und dessen Verhalten sie nachahmen, verabscheute die Welt das jüdische Volk.

Christentum Das Christentum zum Beispiel hat seinen Judenhass theologisch begründet. Die Zerstörung des Jerusalemer Tempels und das Exil des jüdischen Volkes wollten die Christen so verstehen, dass der Allmächtige Seine Haltung gegenüber dem jüdischen Volk geändert hatte. Sie kritisierten die Juden und stellten das Volk Israel als rebellierenden Sohn dar, der sündigt und deshalb vom Tisch des Vaters verwiesen wird. Aus Sicht des Christentums hat G’tt seinen Sohn verlassen. Aufgrund dieser Erkenntnis gelangte das Christentum zu der Auffassung, G’tt suche einen anderen Sohn, einen, der disziplinierter ist und sich so benimmt, wie sein Vater es von ihm erwartet. Das Christentum bestimmte für sich, dass es das jüdische Volk ersetzt.

Die Tora erhielt einen neuen Status: Gemeinsam mit den Nevi’im (Propheten) und den Ketuvim (Schriften) wurde sie von den Christen »Altes Testament« genannt. Ihm stellte man das sogenannte Neue Testament gegenüber. Damit wollte man sagen: G’tt hat einen neuen Bund geschlossen, der alte ist bedeutungslos geworden.

Diese Theologie führte zu einem Antisemitismus, den die Kirche förderte. Die Christen verhielten sich Juden gegenüber wie Kinder, die ein Waisenkind verprügeln, dessen Vater es nicht mehr beschützen kann. Auch im Islam, der einige Jahrhunderte nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels entstand, sehen wir eine eher feindliche Bezugnahme auf die Juden.

Exil In seinem 2000-jährigen Exil litt das jüdische Volk, wo immer es sich niederließ, unter den anderen Religionen und Völkern: Man denke an die spanische Inquisition, den Holocaust und die vielen Pogrome. Auch heute, nach der Rückkehr des jüdischen Volkes in sein Land, leidet es unter ständiger Kritik, unter Kriegsdrohungen und unter der Gefahr, dass manche Staaten es auslöschen wollen.

Wie stehen die Chancen, dass die Zukunft besser wird? Wie steht der Ewige zu dem Hass der Völker? Nach der Schoa und der Gründung des Staates Israel begriff die Kirche, dass sie die theologische Sicht auf das jüdische Volk ändern muss. Denn die prophetischen Visionen treten ein. Das jüdische Volk ist in sein Land zurückgekehrt, sammelt sich nach dem langen Exil und beginnt mit dem Aufbau des jüdischen Staates an dem Ort, wo es nach dem Auszug aus Ägypten annähernd 1400 Jahre lang saß.
Könnte es demnach möglich sein, dass G’tt sein Volk nicht aufgegeben hat? Die moderne christliche Theologie sieht das jüdische Volk inzwischen als den Ursprung und als den älteren Bruder des Christentums an. Das Verhältnis zwischen Christen und Juden hat sich in den vergangenen Jahrzehnten stark verändert. Die Kommunikation ist heute eine andere als früher, es besteht keine Missionierungsgefahr, und beide Seiten begegnen einander mit Respekt.

Bedenken Am Ende des Ha’asinu-Lieds nach der genauen Beschreibung der Geschichte des jüdischen Volkes kommt der zusammenfassende Satz, der sich an alle Völker der Welt wendet: »Preiset jauchzend, Nationen, Sein Volk; denn das Blut der Knechte rächt Er, und Rache übt Er an seinen Feinden, ist dem Boden und dem Volk versöhnt« (5. Buch Mose 32,43).

Dieser Satz hat in erster Linie die Aufgabe, die Israeliten zu beruhigen. Denn das Leiden, das das jüdische Volk begleitet, kann selbst bei Juden Bedenken hervorrufen: Wenn es so schwierig ist, muss es doch irgendein Problem damit auf sich haben, dass die Juden das auserwählte Volk sind.

Raschi (1040–1105) sagt: »Zur selben Zeit, da die Völker Israel preisen, seht, was diese Preisung den Juden antut, die sich an den Schöpfer hielten in allen Mühsalen und Leiden, die sie durchgestanden haben. Sie haben Ihn nicht verlassen, da sie Seine Güte und Seine Herrlichkeit kennen.«

Ausgerechnet die Treue des jüdischen Volkes gegenüber dem Schöpfer führt zur Preisung des Allmächtigen. Die Nationen werden dem jüdischen Volk gegenüber ihren Respekt ausdrücken dafür, dass es den Druck, den Antisemitismus und die Drohungen ausgehalten hat.

Das Ha’asinu-Lied endet mit der Ermutigung des jüdischen Volks und der Ansprache an die Völker. Israel hat einen langen Weg vor sich. Die anderen Völker vergossen immer wieder das Blut des jüdischen Volkes. In Zukunft jedoch wird der Weg des Verständnisses, des Friedens und der gegenseitigen Ehrfurcht angebahnt, der uns in Kürze der vollständigen Erlösung nähern wird. Amen.

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Kultusgemeinde Groß-Dortmund.

Inhalt
Der Wochenabschnitt Ha’asinu gibt zu einem großen Teil das »Lied Mosches« wieder. Es erzählt von der Macht G’ttes und wie sie sich in der Geschichte der Welt gezeigt hat. Es erinnert an das Gute, das der Ewige dem Volk Israel zuteilwerden ließ, aber auch an die Widerspenstigkeit der Israeliten und die Bestrafung dafür. G’tt spricht zu Mosche und fordert ihn auf, auf den Berg Nebo zu kommen. Von dort soll er auf das Land Israel schauen – betreten aber darf er es nicht.
5. Buch Mose 32, 1–52

Essen

Was gehört auf den Sederteller?

Sechs Dinge, die am Pessachabend auf dem Tisch nicht fehlen dürfen

 23.04.2024

Korban Pessach

Schon dieses Jahr in Jerusalem?

Immer wieder versuchen Gruppen, das Pessachopfer auf dem Tempelberg darzubringen

von Rabbiner Dovid Gernetz  22.04.2024

Pessach

Kämpferinnen für die Freiheit

Welche Rolle spielten die Frauen beim Auszug aus Ägypten? Eine entscheidende, meint Raschi

von Hadassah Wendl  22.04.2024

Essen

Was gehört auf den Sederteller?

Sechs Dinge, die am Pessachabend auf dem Tisch nicht fehlen dürfen

 23.04.2024

Mezora

Die Reinheit zurückerlangen

Die Tora beschreibt, was zu tun ist, wenn Menschen oder Häuser von Aussatz befallen sind

von Rabbinerin Yael Deusel  18.04.2024

Tasria

Ein neuer Mensch

Die Tora lehrt, dass sich Krankheiten heilsam auf den Charakter auswirken können

von Yonatan Amrani  12.04.2024

Talmudisches

Der Gecko

Was die Weisen der Antike über das schuppige Kriechtier lehrten

von Chajm Guski  12.04.2024

Meinung

Pessach im Schatten des Krieges

Gedanken zum Fest der Freiheit von Rabbiner Noam Hertig

von Rabbiner Noam Hertig  11.04.2024

Pessach-Putz

Bis auf den letzten Krümel

Das Entfernen von Chametz wird für viele Familien zur Belastungsprobe. Dabei sollte man es sich nicht zu schwer machen

von Rabbiner Avraham Radbil  11.04.2024