Geschichte

Die Rabbanit von Worms

Was wäre, wenn ­Belette 1196 nicht ermordet, ­sondern spirituelle »Meisterin« ihrer ­Gemeinde geworden wäre?

von Birgit E. Klein  18.05.2018 08:40 Uhr

Pessach-Haggada, geschrieben von Israel ben Meir von Heidelberg, ca. 1430 Foto: TU Darmstadt

Was wäre, wenn ­Belette 1196 nicht ermordet, ­sondern spirituelle »Meisterin« ihrer ­Gemeinde geworden wäre?

von Birgit E. Klein  18.05.2018 08:40 Uhr

Was wäre, wenn» zu fragen, hat eine lange jüdische Geschichte: Eines der beliebtesten Lieder der Pessach-Haggada ist «Dajjenu» – «Es hätte uns genügt», zum Beispiel «Hätte Er uns die Tora gegeben, ohne uns in das Land Israel zu führen – es hätte uns genügt!» So wird die Gabe der Tora, die an Schawuot gefeiert wird, dem Einzug in das verheißene Land vorgezogen, ein weitreichendes «Was wäre, wenn»-Szenario.

Diesen Ansatz hat ein von Gavriel D. Rosenfeld herausgegebener Sammelband aufgegriffen: What Ifs of Jewish History. From Abraham to Zionism (Cambridge 2016). Die hier versammelten 16 Beiträge renommierter Gelehrter beantworten faszinierende Fragen, wie jüdische Geschichte auch anders hätte verlaufen können, von «Was, wenn sich der Exodus niemals ereignet hätte?» (Steven Weitzman) über «Was, wenn König Ferdinand und Königin Isabella die Juden Spaniens 1492 nicht vertrieben hätten?» (Jonathan Ray) und «Was, wenn die Weimarer Republik überlebt hätte? Ein Kapitel aus Walther Rathenaus Erinnerungen» (Michael Brenner) bis hin zu «Was, wenn der Holocaust abgewendet worden wäre?» (Jeffrey S. Gurock).

Im Wintersemester 2017/18 haben wir in einer Übung der HfJS die kreativen und anregenden Antworten der Autoren diskutiert und analysiert. Sie sind als fiktive Erzählung formuliert oder als Darstellung, die sich zunächst auf bekannte Fakten stützt und diese dann kontrafaktisch fortschreibt. Dabei haben wir auch drei Desiderate festgestellt: Nur ein Beitrag stammt von einer Frau; kein Alternativszenario behandelt einen Aspekt der Frauen- oder Geschlechtergeschichte, und schließlich fehlen weitgehend Szenarien für die jüdische Geschichte vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert.

Klagelied Daher werde ich im Folgenden eine alternative Frage zur Frauen- und Geschlechtergeschichte des Mittelalters stellen: «Was wäre, wenn Belette 1196 nicht ermordet, sondern spirituelle Meisterin – Rabbanit – der Wormser Gemeinde geworden wäre?» Um den Unterschied zwischen Fakten und Fiktion klar erkennbar zu machen, werde ich zunächst die bekannten Fakten darstellen und diese dann alternativ fortschreiben.

Von Belette wissen wir aus sehr tragischem Grund: Nachdem sie am 22. Kislev 4957 / 26. November 1196 gemeinsam mit ihrer Mutter Dolza (auch Dolce u.ä.) und ihrer jüngeren Schwester Hanna ermordet worden war, betrauerte ihr Vater, Rabbi Elasar ben Jehuda von Worms (circa 1160 – circa 1230), ihre Ermordung in einem sehr anrührenden Klagelied, das zunächst Dolza als eschet chajil, «tüchtige Frau», unter Anspielung auf Mischle/Sprüche 31, 10–31 beschreibt:

«Eine tüchtige Frau, wer findet sie (10a), die Krone ihres Gatten, die Tochter Edler, eine Frau, gottesfürchtig und gepriesen durch ihre guten Taten? Ihr vertraute das Herz ihres Gatten (11a), den sie speiste und ehrenvoll kleidete …

Sie sang Lieder und Gebet und sprach Bittgebete …
In allen Städten lehrte sie die Frauen und stimmte Gesänge,
die Ordnungen des Gebets am Morgen und am Abend ordnete sie, und zur Synagoge stand sie früh auf und blieb spät …»

Diesem Klagelied verdanken wir wie keinem anderen Text unser Wissen über eine jüdische Frau im Mittelalter: Dolza lehrte die Wormser Frauen und lebte im Rhythmus der Gebetszeiten. Zum Gemeindegebet ging sie frühmorgens und spätabends in die Wormser Synagoge, die 1174/75 das 1034 gebaute Gebäude ersetzt hatte. Und das zu einer Zeit, als es nur einen einzigen Synagogenraum gab, denn die «Weiberschul» wurde erst 1212/13 an die Synagoge angebaut, um fortan die betenden Frauen von den Männern zu trennen. Mit der Mutter Dolza hatten wohl auch die Töchter Belette (geboren um 1183) und Hanna (geboren um 1190) in der den Männern und Frauen gemeinsamen Synagoge gesessen:

«Ich will die Taten von Belette, meiner großen Tochter, erzählen,
dreizehn Jahre war sie alt, züchtig wie eine Braut.
Sie hatte alle Gebete und Gesänge von ihrer Mutter gelernt,
züchtig und fromm, lieblich und weise,
war im Tun ihrer Mutter gefolgt – schön war die Jungfrau …
Flink im Haus war Belette, nur Wahrheit sprechend, dienend ihrem Schöpfer …

Unermüdlich wie ihre Mutter, in ihrer Liebe zu ihrem Bildner ohne jeden Makel. Ihr Sinn auf den Himmel gerichtet, saß sie, mir nahe, um Tora zu hören.

Doch erschlagen ward sie, mit ihrer Mutter und ihrer Schwester.
In der Nacht des 22. Kislev, als ich friedlich an meinem Tisch saß,
kamen zwei Verabscheuungswürdige, erschlugen sie vor meinen Augen und verwundeten mich, meine Schüler und auch meinen Sohn.»

Nach seinem Hauptberuf auch ha-rokeach (der Salbenmischer) genannt, war der Gatte und Vater Elasar ben Jehuda von Worms ein Schüler des «frommen» Rabbi Jehuda ben Samuel he-chassid gewesen, dem maßgeblichen Lehrer der «Frommen von Aschkenas», Chasside Aschkenas, und einer ihrer prominentesten Vertreter geworden. Zweifelsohne hatte er maßgeblich die hohe Frömmigkeit und religiöse Bildung seiner Frau und Töchter gefördert.

Inschrift Was wäre, wenn Belette nicht ermordet, sondern ihrer Mutter folgend die spirituelle «Meisterin» der Wormser Frauen geworden wäre? Vielleicht stellten sich bereits Belettes Zeitgenossen diese Frage, noch ganz geprägt vom Eindruck ih­res gewaltsamen, viel zu frühen Todes.

Denn im Schutt der 1938/42 völlig zerstörten Synagoge fand sich auch ein zierlicher, teilweise beschädigter Pfeiler mit einer hebräischen Inschrift auf der Vorderseite, liebevoll verziert mit dem Relief einer Palme darunter, auf der rechten Seite mit einem Lebensbaum, der anscheinend 13 lilienähnliche Blüten trägt, und auf der linken Seite mit einem Doppelflechtband.

Der noch erhaltene Teil der Inschrift lautet:
מאושרת מרת בלט הגברת לטובה נזכרת במספר העלמות
« …/ glücklich / Frau/ Belette / die Gebieterin / gedacht / zum Guten / in der Zahl / der jungen Frauen.»

Jüngst hat Michael Brocke den Pfeiler, seine Inschrift und seine Verzierungen ausführlich beschrieben und viele gute Gründe dafür angeführt, dass hier der ermordeten Belette, Tochter des Elasar ben Jehuda, gedacht wird. Denn Belette, französisch für «Wiesel», hier die wieselflinke Tochter, sei als Name sehr selten in Worms nachgewiesen und nur auf zwei Inschriften des Wormser Friedhofs in den Jahren 1220 und 1238 genannt. Die Palme repräsentiere Belette: «Dein Wuchs gleicht einer Palme …» (Hohelied 7,8a), sie auf diese Weise mit Deborah vergleichend, die als Richterin unter einer Palme saß (Richter 4,5). Schließlich könnten die jungen Frauen, alamot, auf die jungen Frauen im Hohelied anspielen: «deshalb lieben dich alamot» (Hld 1,3), was der bekannte antike Gelehrte Rabbi Akiwa in einem fiktiven Dialog zwischen Israel und den Völkern deutete als: «Sie lieben dich al mot: Sie lieben dich bis in den Tod.» All dies könnte also an die so jung ermordete Belette, die vornehme Tochter des berühmten Gelehrten, «über ihren Tod hinaus» erinnern.

Weiberschul Einzig der Umstand, dass Belette nur 13 Jahre alt geworden ist, passt nicht ganz zur «Frau» und «Gebieterin» der Inschrift. Eben dies soll hier wiederum den Anstoß zur fiktiven Gegengeschichte geben: Was wäre, wenn Belette nicht ermordet, sondern zur «Gebieterin unter den jungen Frauen» und Männern (provokativ gefragt) herangewachsen wäre?

Nehmen wir also an, der Pfeiler stand in der gemeinsamen Synagoge der Frauen und Männer von 1174/75 und markierte den Bereich der Frauen, dort, wo Belette zeitlebens gestanden hatte, um das Gebet der Frauen zu leiten und sie zu unterrichten. Doch auch Männer lauschten der Weisheit der Tochter des berühmten Gelehrten.

Als einige Männer Anfang 1210 vorschlugen, eine abgetrennte «Weiberschul» zu bauen, da sie sich angeblich wegen des Anblicks der Frauen und des «erotisch-anzüglichen» Klangs ihrer Stimmen nicht mehr auf ihre Gebete konzentrieren konnten, protestierten nicht nur die Frauen – auch viele Männer wollten nicht mehr auf Belettes weise Toraauslegungen verzichten. Sie nannten sie ihre Rabbanit, «Rabbinerin», und meinten hiermit nicht nur die Gattin eines Rabbis, wörtlich «mein Meister», sondern ihre gelehrte «Meisterin».

Warum sollte man die Frauen dann nicht auch vorbeten lassen, sie an der Toralesung beteiligen und ihnen partnerschaftlich einen eigenen Frauenminjan, die Zahl der zehn religionsmündigen Personen einräumen, die zur Abhaltung des Gemeinschaftsgebets in allen seinen Teilen erforderlich ist?

In der Wormser Lernnacht an Schawuot des Jahres 1239 (4999 nach jüdischer Zeitrechnung) studierten Männer und Frauen gemeinsam die Tora unter der Leitung der inzwischen 56 Jahre alten Belette und teilten ihre Hoffnungen für das Jahr 5000, mit dem viele messianische Hoffnungen verbanden. Da stand Belette auf und verkündete ihre Vision: «Und wieder stehen wir am Sinai: Als einst unsere Väter und Mütter die Gabe der Tora am Sinai hörten, waren alle noch ungeborenen Seelen präsent; daher hat jede Seele jeweils den ihr eigenen, besonderen Anteil an der Tora, den nur diese Seele jeweils verstehen kann. Im kommenden sechsten Jahrtausend werden wir alle unseren Anteil beitragen, damit die Gabe der Tora vollendet werden kann.»

Belette konnte nicht ahnen, dass es erst in knapp sieben Jahrhunderten mit Regina Jonas wieder eine Rabbinerin geben würde, nach deren Ermordung in Auschwitz 1944 jüdische Frauen noch weitere Jahrzehnte warten mussten, bis sie endlich ihren Anteil zur Gabe der Tora beitragen konnten.

Die Autorin ist Rabbinerin und Inhaberin des Lehrstuhls für Geschichte des Jüdischen Volkes.

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