Midrasch

Der Zweifler

Im Dauerregen: Russel Crowe als Noah in dem gleichnamigen Fantasyfilm (USA 2014) Foto: Paramount

Die Sintflut-Erzählung ist wahrscheinlich die einzige Geschichte, die es in fast allen Kulturen gibt. Zwar variieren die Details, aber fast immer geht es um Wassermassen, die wegen der Sünden der Menschen auf die Erde niedergingen. Nur eine einzige gerechte Familie blieb von der Sintflut verschont – von ihr stammen wir alle ab.

Diese Legende begegnet uns in der altgriechischen Sagenwelt (Deukalion-Mythos), der indischen Mythologie oder der altisländischen Schöpfungsgeschichte. Und selbst die australischen Aborigines, amerikanische Indianer und die Chinesen erzählen eine ähnliche Geschichte von der Sintflut und einer mysteriösen Arche.

Wasser Die Tora leitet die wohl berühmteste Erzählung der Welt so ein: »Und Noach tat alles, wie der Ewige ihm geboten. Und Noach war 600 Jahre alt, als die Flut des Wassers auf der Erde war. Da gingen Noach und seine Söhne und seine Ehefrau und die Ehefrauen seiner Söhne mit ihm in die Arche, vor dem Gewässer der Flut« (1. Buch Mose 7, 5–7).

Raschi (1040–1105) kommentiert und zitiert den Midrasch Bereschit Raba: »Auch Noach gehörte zu denen, die klein an Vertrauen waren. Er war nicht ganz davon überzeugt (im Original: Er glaubte und glaubte nicht), dass die Sintflut kommen werde, und ging erst in die Arche, als ihn das Wasser drängte.«

Unsere Weisen sagen, Noach habe bis zum Ende bezweifelt, dass eine Sintflut kommen werde. Erst als das Wasser ihm bis zum Hals stand, begab er sich mit seiner Familie auf die Arche. Doch stimmt dieser Midrasch mit unserer Vorstellung von Noach überein? Es steht doch in der Tora, dass er ein Gerechter gewesen ist, und dass er alles tat, was G’tt ihm befohlen hat. Außerdem baute er ganze 120 Jahre an seiner Arche. Wie kann es dann sein, dass er an der Sintflut zweifelte?

Ein ähnliches Muster erkennen wir bei unserer Urmutter Sara. Die Tora erzählt uns, dass Sara sehr lange keine Kinder bekommen konnte. Jahrelang betete sie, dass ihr sehnlichster Wunsch, ein Kind zu bekommen, in Erfüllung gehen möge. Doch als sie erfährt, dass sie einen Sohn zur Welt bringen wird, fängt sie an zu lachen und am Wahrheitsgehalt der Nachricht zu zweifeln, sodass G’tt sagt: »Ist dem Ewigen ein Ding zu schwer?« (1. Buch Mose 18,14). Wie kann es sein, dass auch Sara an G’ttes Möglichkeiten zweifelte?

Maschiach Der Chofez Chajim, Rabbiner Israel Meir Kagan (1839–1933), weist darauf hin, dass auch wir dieses Gefühl des Zweifels und der Ungläubigkeit erleben werden – nämlich, wenn unser lang ersehnter Erlöser, der Maschiach, kommt. Und das, obwohl wir Tag für Tag den zwölften der 13 Glaubensgrundsätze von Maimonides sagen oder singen: »Ani maamin be emuna schelema bewiat Hamaschiach« (Ich bin vollkommen von der Ankunft des Maschiach überzeugt).

Trotzdem werden wir voller Zweifel sein, selbst wenn eines Tages alle Fakten dafür sprechen, dass der Maschiach gekommen ist. Vielleicht meint genau das der Vers aus Schir Hama’alot, dem Psalm, den wir immer an den Feiertagen vor dem Birkat Hamason sagen: »As jemale s’chok pinu« (Dann werden unsere Münder sich mit Lachen füllen). Dort geht es um die Zeit des Maschiach, und vielleicht werden wir dann genauso ungläubig lachen wie einst Sara.

Und auch wenn Sara jahrelang dafür gebetet hat, Kinder zu bekommen, und viele Juden aufrichtig und mit ganzem Herzen an das Eintreffen des Maschiach glauben – wenn es so weit sein wird, werden wir es nicht glauben können, genauso, wie es bei Noach der Fall gewesen ist.

Doch wie kann ein Mensch gleichzeitig glauben und nicht glauben? Ganz einfach: Die Theorie unterscheidet sich sehr oft von der Praxis. In der Theorie sind die meisten gewillt, vieles zu tun – doch wenn es ernst wird, springt die Mehrheit ab. Den Kampfesmut eines Soldaten kann man nur bei einem Militäreinsatz richtig einschätzen: Vor dem Kampf geben viele Männer mutige Sprüche von sich, doch sehr oft sind gerade sie diejenigen, die als Erste vom Schlachtfeld rennen. Und auch die Tatsache, dass man die theoretische Fahrschulprüfung mit Bravur gemeistert hat, bedeutet noch lange nicht, dass man die praktische Prüfung besteht.

Brieftasche Reb Chaim von Sanz (1793–1876) stellte einst seinen Chassidim eine Frage: »Was würdet ihr tun, wenn ihr eine Brieftasche mit einer großen Summe Geld gefunden hättet, und es gäbe deutliche Zeichen, die auf ihren Besitzer hinweisen?« Ein Chassid rief in aller Aufrichtigkeit und großer Sicherheit in der Stimme: »Ich würde die Brieftasche sofort an den Besitzer zurückgeben.« Der Rebbe erwiderte: »Das ist eine Dummheit!«

Der nächste Chassid, mit derselben Frage konfrontiert, sagte: »Rebbe, ich würde die Brieftasche ganz einfach behalten!« »Du bist ein Dieb!«, schrie der Rebbe. Ein dritter Chassid sagte: »Ich weiß nicht, was ich tun würde, Rebbe. Aber ich hoffe, dass ich die moralische Standhaftigkeit hätte, das Richtige zu tun, und würde die Brieftasche an den rechtmäßigen Besitzer zurückzugeben.« Der Rebbe von Sanz atmete auf und sagte: »Das ist ein weiser Mann!«

Wir können nicht wissen, wie wir in bestimmten Situationen handeln werden. Das Einzige, was wir tun können, ist zu versuchen, uns zu besseren Menschen zu erziehen, uns durch das Studium der Tora mit verschiedenen Fällen zu konfrontieren. Wir müssen lernen, welches Verhalten in diesen Situationen moralisch und halachisch richtig ist, und sollten dafür beten, in diesen Situationen standhaft und mutig zu sein, sodass wir richtig reagieren.

Deshalb sagen auch unsere Weisen, dass man niemals einen Menschen verurteilen darf, bis man nicht in seine Situation gekommen ist. Denn man kann nie wissen, wie man selbst reagieren würde.

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Osnabrück.

Inhalt
Der Wochenabschnitt Noach erzählt vom Beschluss des Ewigen, die Erde zu überfluten. Das Wasser soll alles Leben vernichten und nur Noach verschonen. Der soll eine Arche bauen, auf die er sich mit seiner Familie und einem Paar von jeder Tierart zurückziehen kann. So erwacht nach der Flut neues Leben. Der Ewige setzt einen Regenbogen in die Wolken als Symbol seines ersten Bundes mit den Menschen. Die beginnen, die Stadt Babel zu erbauen, und errichten einen Turm, der in den Himmel reicht. Doch der Ewige vereitelt ihren Plan.
1. Buch Mose 6,9 – 11,32

Chabad

Gruppenfoto mit 6500 Rabbinern

Tausende Rabbiner haben sich in New York zu ihrer alljährlichen Konferenz getroffen. Einer von ihnen aber fehlte

 02.12.2024

Toldot

Jäger und Kämpfer

Warum Jizchak seinen Sohn Esaw und nicht dessen Bruder Jakow segnen wollte

von Rabbiner Bryan Weisz  29.11.2024

Talmudisches

Elf Richtlinien

Wie unsere Weisen Psalm 15 auslegten

von Yizhak Ahren  29.11.2024

Ethik

»Freue dich nicht, wenn dein Feind fällt«

Manche Israelis feiern auf den Straßen, wenn Terroristenführer getötet werden. Doch es gibt rabbinische Auslegungen, die jene Freude über den Tod von Feinden kritisch sehen

von Rabbiner Dovid Gernetz  29.11.2024

Potsdam

In der Tradition des liberalen deutschen Judentums

Die Nathan Peter Levinson Stiftung erinnerte an ihren Namensgeber

 28.11.2024

Kalender

Der unbekannte Feiertag

Oft heißt es, im Monat Cheschwan gebe es keine religiösen Feste – das gilt aber nicht für die äthiopischen Juden. Sie feiern Sigd

von Mascha Malburg  28.11.2024

Berlin

Spendenkampagne für House of One startet

Unter dem Dach des House of One sollen künftig eine Kirche, eine Synagoge und eine Moschee Platz finden

von Bettina Gabbe, Jens Büttner  25.11.2024

Chaje Sara

Handeln für Generationen

Was ein Grundstückskauf und eine Eheanbahnung mit der Bindung zum Heiligen Land zu tun haben

von Rabbiner Joel Berger  22.11.2024

Talmudisches

Elefant

Was unsere Weisen über die Dickhäuter lehrten

von Rabbiner Netanel Olhoeft  22.11.2024