Rezension

Der Richter und seine Arbeit

Vor einem Rabbinatsgericht in Jerusalem Foto: Flash 90

In Israel lassen sich jedes Jahr mehr als 10.000 jüdische Paare scheiden. Sie sind auf die vom Staat eingerichteten Rabbinatsgerichte angewiesen. Wenn man der Statistik glauben darf, so haben die 107 Richter (hebräisch: Dajanim), die heute in diesen Rabbinatsgerichten wirken, mit mehr als 100.000 Menschen pro Jahr zu tun.

Doch die Leistung der gelehrten Dajanim wird oft nicht richtig eingeschätzt. Der erfolgreiche Spielfilm Get – Der Prozess der Viviane Amsalem von Ronit und Shlomi Elkabetz hat leider ein Zerrbild ihrer Tätigkeit gezeichnet.

Fortbildung Im Jahr 2017 fanden zwei Fortbildungsveranstaltungen für die israelischen Dajanim statt, an denen beide Oberrabbiner teilnahmen. Die Vorträge, die bei diesen Konferenzen gehalten wurden, liegen jetzt in einem umfangreichen Tagungsband vor. Wer wissen möchte, wie Dajanim denken und arbeiten, kann aus dieser Publikation wichtige Einsichten gewinnen. Es ist nicht erstaunlich, dass in den meisten Referaten religionsgesetzliche Fragen erörtert wurden.

Dajanim urteilen nach den Gesetzen der Tora, und die Klärung halachischer Probleme ist für sie natürlich von größter Bedeutung. Aus der Fülle der behandelten Themen seien an dieser Stelle nur wenige Beispiele genannt.

Leihmutterschaft Die im Staat Israel erlaubte Leihmutterschaft wurde aus halachischer Sicht betrachtet. Auf die Frage, welche Frau als die Mutter anzusehen ist – diejenige, von der die Eizelle stammt, oder diejenige, die das Kind ausgetragen und geboren hat –, haben anerkannte Autoritäten verschiedene Antworten gegeben. Es sind auch Dezisoren bekannt, die ihre Ansicht nach einiger Zeit änderten.

Die meisten Surrogatmütter in Israel sind heute verheiratete Frauen; nach Aussagen von Psychologen zeigte sich, dass die Kinder dieser Mütter ein Problem damit hatten, dass ihre Mutter ein Baby »weggegeben« hat. Erwähnt wurden Fälle, in denen ein Ehemann seine Frau zur Leihmutterschaft »zwang«, um eine Hypothek tilgen zu können. Die Versuchung ist deshalb so groß, weil eine Leihmutter in Israel circa 40.000 Euro pro Schwangerschaft bekommt.

Scheidungsurkunde Durch die Medien wurden etliche Fälle bekannt, in denen Männer sich weigerten, ihren Frauen eine Scheidungsurkunde zu geben. Auf der Tagung der Dajanim wurde besprochen, welche Druckmaßnahmen gegen solche Übeltäter zulässig sind und welche nicht. Weniger bekannt sind die Fälle, in denen ein Mann »angekettet« ist.

Ein Referat behandelte die Frage, unter welchen Umständen ein Rabbinatsgericht einem Mann erlauben kann, eine zweite Frau zu ehelichen, was im Regelfall bekanntlich verboten ist. In Israel gibt es eine Organisation, die offen für die Praxis der Polygamie wirbt. Diese Vereinigung behauptet, der angesehene Halachist Rabbiner Ovadia Yosef habe die Polygamie gebilligt; sein Sohn, Oberrabbiner Yitzhak Yosef, bestreitet die Richtigkeit dieser Behauptung mit großer Entschiedenheit.

Auf beiden Tagungen der Dajanim wurde nicht ausschließlich über religionsgesetzliche Fragen gesprochen. Die Organisatoren haben auch Referenten eingeladen, die Fragen der Lebensführung, also Beiträge zur Allgemeinbildung, diskutierten. Daher kann man das vielseitige Buch auch Interessierten empfehlen, die gewöhnlich halachische Werke nicht in die Hand nehmen.

Alternativmedizin Ein Familienarzt diskutierte Fragen der Gesundheitsvorsorge. Über alternative Medizin referierte der Leiter eines großen Jerusalemer Krankenhauses, diskutierte das Für und Wider und plädierte als Schulmediziner dafür, die Alternativmedizin ernst zu nehmen. Über verschiedene Streitstile und die Möglichkeit der Streitschlichtung hielt ein Psychotherapeut einen Vortrag. Vom Problem der Alkohol- und Drogensucht war auf der Tagung der Dajanim ebenfalls die Rede. Der Leiter einer Therapieeinrichtung skizzierte mehrere Fälle, in denen Klienten ohne professionelle Hilfe nie von der Sucht losgekommen wären.

Im Schlussteil des Bandes sind die Protokolle der allerersten Tagungen der israelischen Dajanim (1952 und 1953) abgedruckt. Der Vergleich zwischen der damaligen und der heutigen Situation ist aufschlussreich. Wer den Tagungsband bestellen möchte, kann sich an die Herausgeber wenden.

Rabbiner Shimon Jacoby und Rabbiner Jechiel Chaim Freimann (Hrsg.): »Keness HaDajanim 5777«. Jerusalem 2018, 752 S., 40 €. Adresse der Herausgeber: Hanhalat Bate HaDin HaRabbaniim, Rechov Kanfe Nesharim 22, Jerusalem 91342, Israel

Gespräch

Beauftragter Klein: Kirche muss Antijudaismus aufarbeiten

Der deutsche Antisemitismusbeauftragte Felix Klein kritisiert die Heiligsprechung des Italieners Carlo Acutis. Ihm geht es um antijüdische Aspekte. Klein äußert sich auch zum christlich-jüdischen Dialog - und zum Papst

von Leticia Witte  13.06.2025

Beha’Alotcha

Damit es hell bleibt

Wie wir ein Feuer entzünden und dafür sorgen, dass es nicht wieder ausgeht

von Rabbiner Joel Berger  13.06.2025

Talmudisches

Dankbarkeit lernen

Unsere Weisen über Hakarat haTov, wie sie den Menschen als Individuum trägt und die Gemeinschaft zusammenhält

von Diana Kaplan  13.06.2025

Tanach

Schwergewichtige Neuauflage

Der Koren-Verlag versucht sich an einer altorientalistischen Kontextualisierung der Bibel, ohne seine orthodoxen Leser zu verschrecken

von Igor Mendel Itkin  13.06.2025

Debatte

Eine »koschere« Arbeitsmoral

Leisten die Deutschen genug? Eine jüdische Perspektive auf das Thema Faulheit

von Sophie Bigot Goldblum  12.06.2025

Nasso

Damit die Liebe bleibt

Die Tora lehrt, wie wir mit Herausforderungen in der Ehe umgehen sollen

von Rabbiner Avichai Apel  06.06.2025

Bamidbar

Kinder kriegen – trotz allem

Was das Schicksal des jüdischen Volkes in Ägypten über den Wert des Lebens verrät

von Rabbiner Avraham Radbil  30.05.2025

Schawuot

Das Geheimnis der Mizwot

Der Überlieferung nach erhielt das jüdische Volk am Wochenfest die Tora am Berg Sinai. Enthält sie 613 Gebote, oder sind es mehr? Die Gelehrten diskutieren seit Jahrhunderten darüber

von Rabbiner Dovid Gernetz  30.05.2025

Tikkun Leil Schawuot

Nacht des Lernens

Die Gabe der Tora ist eine Einladung an alle. Weibliche und queere Perspektiven können das Verständnis dabei vertiefen

von Helene Shani Braun  30.05.2025