Professor Chighel, habe ich das richtig verstanden: In Ihrem neuen Buch »Aschkenas« unterstellen Sie der deutsch-jüdischen Denkerlinie von Hermann Cohen bis Kant, zur Erschaffung eines Götzen, eines Golems, verführt worden zu sein?
Ja! Die Geschichte, die ich zu erzählen versuche, handelt von der Entstehung des größten Golems aller Zeiten. Ich versuche zu zeigen, wie dieser Golem in der religiösen und intellektuellen Fabrik erschaffen wurde, die wir »Aschkenas« nennen. Der Ort, an dem Juden und Deutsche zusammenarbeiteten. Und ja, Kant spielt in dieser Symbiose eine Schlüsselrolle. Aber er ist nicht allein.
Ist dies die übliche Kritik an der deutsch-jüdischen Symbiose nach Mendelssohn? Kurz: Alle Kinder konvertieren zum Christentum, und es endet in Auschwitz?
Ich denke nicht, dass die Konversion der Juden zum Christentum die eigentliche Krankheit Aschkenasʼ war oder ist. Das wäre ein Symptom. Oder eine spezielle Prognose. Das tiefere Problem beginnt mit der Transformation des jüdischen Textes, der Tora, durch das spezifisch deutsche Christentum Martin Luthers. Konkret: Luthers Hass auf »das Gesetz« und seine Reduzierung der »wahren« biblischen Religion auf die Gnade, »Sola Gratia«. Darin liegt der wesentliche deutsch-jüdische Nihilismus. Ein Nihilismus, dem Juden wie Christen gleichermaßen zum Opfer fielen. Und der in jener Offenbarung des Nihilismus, die den Namen Auschwitz trägt, seinen vollen Ausdruck fand. Der Golem zerfiel auf allen Köpfen zu Staub.
Wer oder was ist dieser Golem?
Er hat verschiedene Namen. Manche nennen ihn das Gewissen. Kant nennt ihn Pflicht. Freud nannte ihn Über-Ich. Doch der wichtigste und umfassendste Name des Golems ist Gott. Wie in Nietzsches heiligem Wort: »Gott ist tot!«
Heiligem Wort?
Ja, heiligem Wort. Nietzsche war kein Rabbiner. Aber Rabbiner und Propheten haben kein Monopol auf heilige Worte. Gott ist der Gott, den Nietzsche für tot erklärt. Was nicht heißt, dass er verschwunden ist. Gottes Leichnam ist ja noch unter uns, und wir alle leben in einer Art fortwährender Nachtwache. Wir nennen diesen Zustand »Säkularismus«. Freud sprach vom Unbehagen der Kultur, Nietzsche vom europäischen Nihilismus. Der Gott-Golem ist ein titanisches kulturelles Ungeheuer, das durch das Luthertum und die Kantʼsche Philosophie ins Leben gerufen wurde und mit anderen Kräften wie Technologie und Kapitalismus zusammenwirkt. Es ist dieses unpersönliche Ungeheuer, das die aschkenasische Psyche – deutsch und jüdisch – vier Jahrhunderte lang unter Druck setzte. Bis sie explodierte.
Was ist daran deutsch? Ist das nicht die Moderne an sich?
Ja, das ist an sich schon die Moderne. Doch die Moderne ist in dieser Hinsicht »Made in Germany«. Sie ist ein Produkt des Luthertums und des aufklärerischen Denkens, die beide deutsch sind. Das deutsche Volk hat, genau wie die Griechen, ein dauerhaftes Kulturimperium errichtet. Es ist ein literarisch-denkerisches Imperium. Reformation und Aufklärung haben die menschliche Zivilisation nicht weniger geprägt als beispielsweise die Französische Revolution. Und seit der Haskala, der jüdischen Interpretation der Aufklärung, haben Juden maßgeblich zum Ausbau dieses Kulturimperiums beigetragen. In diesem Imperium lebt jeder Bürger unter enormem psychischen Druck. Um diesen schrecklichen Druck zu behandeln, entstand die Wissenschaft der Psychoanalyse. Ich wage in einem Atemzug zu sagen: Psychoanalyse und Auschwitz. Zwei Seiten derselben Medaille. Auflösung und Endlösung des Gottesproblems.
Dieser Druck – es klingt ein bisschen wie eine Verschwörungstheorie. Ist es nicht allgemein menschlich, unter einem gewissen Druck zu stehen?
Zivilisiertes Leben ist immer Leben unter Druck. Doch solange man echte Liebe von seinen irdischen Eltern und seinem himmlischen Elternteil empfindet, ist er erträglich. Wenn der Druck von einem Mechanismus oder einem Golem ausgeübt wird – vom Gewissen oder dem Über-Ich – ist er unerträglich. Ein solches Leben ist eine tickende Zeitbombe.
Das klingt fast christlich, nach »Jesus liebt dich!«.
Warum auch nicht? Woher hat das Christentum die Vorstellung, dass Gott uns liebt? Warum konnte das Christentum so viele Religionen und Mythologien, die seit Jahrtausenden tief in den Herzen der Völker verwurzelt waren, ablösen – wenn nicht, weil diese Götter uns nicht liebten? Gott liebt uns. Das Unendliche liebt das Endliche. Der Unsterbliche liebt uns Sterbliche. In der Antike war das ein absolutes Novum. Ein Novum, das vom Judentum in der Geschichte eingeführt wurde. Niemand verstand besser als Paulus, wie einfach es sein würde, diese neue Idee, diese Botschaft zu vermarkten. Aber hier ist der Haken: Es reicht nicht aus, als Dogma zu sagen: »Gott liebt dich!« Man muss die Liebe spüren. Man muss von ihr genährt werden. Es muss eine echte Liebesbeziehung geben, nicht nur ein offizielles Geständnis. Wenn ich zu meiner Frau sage, dass ich sie liebe, aber keine Zeit mit ihr verbringe; wenn ich meine »Pflichten« gegenüber jemandem erfülle, um mein Gewissen zu beruhigen, aber seinen Worten keine Beachtung schenke, dann gibt es keine Beziehung. Das Glaubensbekenntnis ist hohl. Diese Liebe ist ein Bluff.
Wenn wir in Ihrem Narrativ bleiben – das Judentum als eine Liebesbeziehung zum Ewigen –, wieso habe ich dann in ultraorthodoxen Vierteln in Israel nicht den Eindruck, von liebenden, weisen Menschen umgeben zu sein?
Sie stellen eine schwierige psychologische Frage. Lassen Sie mich deutlich sprechen. Juden sind Menschen. Deutsche sind Menschen. Es gibt gute Deutsche, kluge Deutsche, ebenso wie schlechte Deutsche. Es gibt gute Juden, kluge Juden, und schlechte Juden. Wenn ich sage, dass die jüdisch-deutsche oder Lutherʼsche-Kantʼsche Variante der biblischen Religion eine tickende Zeitbombe oder ein gefährlicher Golem ist, spreche ich nicht von Menschen. Ich spreche von Geschichten. Mythen, wenn Sie so wollen. Die Tora ist eine Geschichte über eine lange, komplexe und schwierige menschliche Beziehung zum Ewigen. Sie lehrt, dass es darauf ankommt, diese Beziehung aufrechtzuerhalten. Meiner Ansicht nach zerstört die Lutherʼsche Nacherzählung dieser Geschichte die Beziehung. Sie reduziert sie auf bloße Verliebtheit. Die Religion der »Sola Gratia« ist eine Religion mit rosaroter Brille. Jeder reife Mensch weiß, dass romantische Verliebtheit keine wirkliche Liebe ist. Verliebtheit sei eine »Projektion« der eigenen Begierden und Verlangen, sagen Psychologen. Die großen deutschen Zwillingsmythen – der Reformation, Luther, und der Aufklärung, Kant – reduzierten die innige Beziehung, die das Grundthema der Tora bildet, effektiv auf eine religiöse Verliebtheit. Und sobald all dies – von scharfsinnigen Geistern wie Nietzsche zum Beispiel – als großer Bluff erkannt wurde, erwies sich der Atheismus als gesunde Alternative.
Ist der Protestantismus an sich für Sie die Vergötterung des Golem-Gottes?
Nein. Aber ich bin froh, dass Sie diese Frage so scharf stellen. Es geht nicht um Protestantismus oder Luthertum. Es ist das, was ich die »aschkenasische Religion« nenne. Es ist eine Idee, die mit Luther beginnt, aber schnell in den Katholizismus, den aufgeklärten Säkularismus und – über Kant und die Haskala – in das nicht mehr traditionelle Judentum integriert wird. Es wäre kindisch, mit dem Finger auf irgendeine Konfession zu zeigen. Wir alle sind schuldig, eine schlechte Idee, einen Nihilismus, am Leben zu erhalten und die Verbreitung zuzulassen.
Wenn wir Kants kategorischen Imperativ nehmen, dass die Maxime unserer Handlung ein universelles Gesetz sein soll, ist es dann nicht auch eine innige, reife Liebe zum »Höchsten«, die unabhängig davon ist, wie wir uns gerade fühlen? Vielleicht sogar mehr als die tradierten Ritualhandlungen des orthodoxen Judentums, die nach Freud Parallelen zu den Zwangshandlungen von Neurotikern haben?
Ich stimme zu, Kants Imperativ drückt die Liebe zum Höchsten aus. Und »Höhe« ist in der Tat eine Dimension des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs. Als Melchisedek Abraham im Namen El Elyons – dem Höchsten – segnet, ist Abraham zutiefst dankbar. Doch kann ein Gott hoch und gleichzeitig gesichtslos sein. Wie ein Obelisk. Oder, wenn Sie mir verzeihen, dass ich immer wieder auf mein Lieblingsbild zurückkomme: Dieser Gott ist ein extrem großer, gigantischer Golem, ein Golem, dessen Erdkopf sich in den Wolken befindet. Kants Gott ist in der Tat hoch. Seine Höhe verleiht dem Imperativ Autorität. Aber es ist eine gesichtslose, ohrenlose, namenlose, seelenlose, lieblose Höhe. Der kategorische Imperativ liebt weder dich noch mich.
Jetzt klingen Sie wiederum romantisch verliebt. Die Tora jedoch ist keine Liebeserzählung, sondern enthält Grausamkeiten wie die brutale Tötung der ägyptischen Neugeborenen – Dinge, vor denen einen der kategorische Imperativ bewahrt.
Sie haben absolut recht, wenn Sie sagen, die Tora sei voller Grausamkeiten. Das Leben selbst ist voll davon. Denn die Tora spiegelt das tatsächliche menschliche Leben wider. Aber genau das ist es, was die Tora über die Romantik hinaushebt. Wahre Liebe ist voller Streit, Kampf, Enttäuschung, Schmerz, Traurigkeit, und – das macht sie zur Liebe – Heilung. Jede Liebesgeschichte in der Tora handelt von Heilung. Denke an Josef und seine Brüder. Die Momente der Erlösung sind flüchtig und prekär und dennoch entscheidend. Der Großteil der Geschichte ist Elend. Im Gegensatz dazu ist die romantische Liebe eine Komödie. Daher der Titel, den Dante seiner Erzählung einer epischen Romanze mit Gott gab. Das ist keine echte, reife Liebe. Es ist eine theologische Version von »La Bella Donna Della Mia Mente«. Daher ist es nicht das, was die Tora »ahawa« nennt – wie zum Beispiel im Schma Jisrael: »Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben …« Es stimmt, dass in jeder Tora-Geschichte eine messianische Erlösung steckt. Aber erst, wenn man das Chaos der tatsächlichen menschlichen Existenz und Liebe erkennt, versteht man, dass Moschiach nicht irgendein Weihnachtsmann ist, der einen Sack voller Antworten trägt, sondern vielmehr derjenige, der uns lehrt, wie man die schwierigeren Fragen stellt. Ja, Ich bin ein Chabadnik, verzeihen Sie mir!
Dass die Tora schlimme Dinge enthält, weil das Leben schlimme Dinge enthält, finde ich als Argument nicht überzeugend. Wenn nur die Menschen in diesen Geschichten fehlerhaft wären, würde ich es mir gefallen lassen. Doch gerade Gott erscheint hier grausam. Ein heiliges Buch muss doch die reine Heiligkeit repräsentieren! Deutsch-jüdische Denker wie Martin Buber haben mit Werken wie »Ich und Du« versucht, davon zu retten, was zu retten ist.
Das Ideal der »reinen Heiligkeit« ist die Quelle der schlimmsten Formen zwischenmenschlicher Gewalt. »Reine Heiligkeit« ist das heimtückische Geheimnis des Todestriebs. Deshalb sprechen wir den Segen in die entgegengesetzte Richtung: »Ins Leben«, wie Rosenzweig sagt, oder wie wir auf Jiddisch sagen: Lechaim! Lechaim tojwim!
Lechaim!
Mit dem Budapester Philosophen sprach Martin Schubert. Das besprochene Buch »Aschkenas: In der deutsch-jüdischen Apokalypse« (2025) ist im Verlag Vittorio Klostermann erschienen.