Bücher

Denker der doppelten Wahrheit

Ein Kapitel ist Abraham Isaak Kook gewidmet Foto: wikimedia (cc)

Bücher

Denker der doppelten Wahrheit

Ephraim Chamiel stellt jüdisch-religiöse Theoretiker vom 19. Jahrhundert bis heute vor

von Yizhak Ahren  24.07.2018 11:52 Uhr

Führer der Unschlüssigen nannte Moses Maimonides sein philosophisches Werk, das um 1190 entstanden ist und heute noch von vielen studiert wird. Dieser Titel benennt das Hauptanliegen aller jüdischen Religionsphilosophen: Sie wollen eine Antwort auf weltanschauliche Fragen geben, die ihre Zeitgenossen beunruhigen und verwirren.

In der Neuzeit sind zu den alten Problemen neue hinzugekommen. Um nur ein Beispiel zu bringen: Die Theorien der modernen Bibelkritik scheinen mit den traditionellen Auffassungen des Judentums unvereinbar zu sein. Bestimmte Ungereimtheiten haben eine Reihe jüdischer Denker bewegt und veranlasst, plausible Lösungen vorzuschlagen.

Kürzlich ist der dritte Band einer Trilogie erschienen, in der der israelische Judaist Ephraim Chamiel (Jahrgang 1946) das moderne jüdisch-religiöse Denken vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart darstellt.

Im ersten Band der Trilogie, es handelt sich um eine überarbeitete Fassung seiner Doktorarbeit, untersuchte Chamiel die Reaktion auf die Moderne in der Philosophie von Rabbiner Zwi Hirsch Chajes (1805–1855), von Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) und von Rabbiner Samuel David Luzzatto (1800–1865). Im zweiten Band hat Chamiel seine ideengeschichtlichen Untersuchungen vertieft und den Einfluss der genannten Toralehrer auf andere Denker beschrieben.

Forschungsergebnisse Der Autor geht sachkundig auf sehr viele Themen ein und deckt Beziehungen auf, die vielen sicherlich ganz neue Einblicke in das moderne jüdische Denken geben dürften. Es war daher definitiv eine gute Idee, zur Bekanntmachung der Forschungsergebnisse Ephraim Chamiels seine zwei Bücher aus dem hebräischen Original ins Englische übersetzen zu lassen (The Middle Way, 2014, und The Dual Truth, 2018).

Im nun vorliegenden dritten Band rezipiert Chamiel die Ansichten gläubiger Juden, die in den vergangenen 100 Jahren Widersprüche zwischen der Wahrheit der Offenbarung und der Wahrheit der Wissenschaft thematisiert haben. Sein Werk bietet übrigens mehr, als der Untertitel verspricht: The Dialectical Position in Contemporary Jewish Thought from Rav Kook to Rav Shagar. Denn Rav Shagar verstarb bereits im Jahr 2007; diskutiert werden aber auch Überlegungen von Elchanan Shilo, die erst vor einem Jahr veröffentlicht wurden.

Kapitel Jedem der folgenden Denker ist ein Kapitel gewidmet: Rabbiner Abraham Isaak Kook, Rabbiner Joseph Ber Soloveitchik, Samuel Hugo Bergmann, Rabbiner Abraham Joshua Heschel, Leo Strauss, Akiba Ernst Simon, Rabbiner Emil Ludwig Fackenheim, Rabbiner Mordechai Breuer, Tamar Ross, Rabbiner Shimon Gershon Rosenberg (Shagar), Mosche Meir, Micha Goodman und Elchanan Shilo.

Um die Position der behandelten Autoren zu verdeutlichen, bringt Chamiel oft lange Zitate. Manchmal lässt er Interpreten der großen Vordenker zu Wort kommen; im Fall von Rabbiner Soloveitchik werden fast ein Dutzend Kommentatoren angeführt. Im Angesicht der vielen Lesarten haben wir subtile Analysen vor uns.

Man spürt, dass Chamiel sich um Objektivität bemüht, aber er ist gewiss kein unparteiischer Historiker. Ganz offen bekennt der Verfasser an mehreren Stellen, dass er die Position der doppelten Wahrheit für richtig hält. Was bedeutet diese paradoxe Position? Dass sowohl die aus der Offenbarung gezogenen Schlüsse als auch Schlüsse, die sich aus der Vernunft ergeben, richtig sind – und dies, obwohl sie sich manchmal widersprechen. Jeder Versuch einer Harmonisierung von These und Antithese sei zum Scheitern verurteilt, schreibt Chamiel und verweist darauf, dass der deutsche Philosoph Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854) ebenfalls gelehrt hat, dass wir mit zwei Wahrheiten leben müssten.

Bündnispartner Es ist nicht zu übersehen, dass der Autor Bündnispartner für die von ihm vertretene Position der doppelten Wahrheit sucht. Seine Fragestellung verliert er dabei nie aus dem Blick. Ephraim Chamiels beharrliche Befragung der philosophischen Texte erweist sich als außerordentlich ertragreich.

Am Ende weiß der Leser, welche Denker die Theorie der doppelten Wahrheit akzeptierten, welche eine andere Lösung für das Problem der Widersprüche zwischen Offenbarung und Vernunft vertraten und wer schließlich in dieser Frage hin und her schwankte.

Ephraim Chamiel: »Between Religion and Reason« (hebr.), Hozaat Carmel, Jerusalem 2018, 197 S., NIS 79

Gespräch

Beauftragter Klein: Kirche muss Antijudaismus aufarbeiten

Der deutsche Antisemitismusbeauftragte Felix Klein kritisiert die Heiligsprechung des Italieners Carlo Acutis. Ihm geht es um antijüdische Aspekte. Klein äußert sich auch zum christlich-jüdischen Dialog - und zum Papst

von Leticia Witte  13.06.2025

Beha’Alotcha

Damit es hell bleibt

Wie wir ein Feuer entzünden und dafür sorgen, dass es nicht wieder ausgeht

von Rabbiner Joel Berger  13.06.2025

Talmudisches

Dankbarkeit lernen

Unsere Weisen über Hakarat haTov, wie sie den Menschen als Individuum trägt und die Gemeinschaft zusammenhält

von Diana Kaplan  13.06.2025

Tanach

Schwergewichtige Neuauflage

Der Koren-Verlag versucht sich an einer altorientalistischen Kontextualisierung der Bibel, ohne seine orthodoxen Leser zu verschrecken

von Igor Mendel Itkin  13.06.2025

Debatte

Eine »koschere« Arbeitsmoral

Leisten die Deutschen genug? Eine jüdische Perspektive auf das Thema Faulheit

von Sophie Bigot Goldblum  12.06.2025

Nasso

Damit die Liebe bleibt

Die Tora lehrt, wie wir mit Herausforderungen in der Ehe umgehen sollen

von Rabbiner Avichai Apel  06.06.2025

Bamidbar

Kinder kriegen – trotz allem

Was das Schicksal des jüdischen Volkes in Ägypten über den Wert des Lebens verrät

von Rabbiner Avraham Radbil  30.05.2025

Schawuot

Das Geheimnis der Mizwot

Der Überlieferung nach erhielt das jüdische Volk am Wochenfest die Tora am Berg Sinai. Enthält sie 613 Gebote, oder sind es mehr? Die Gelehrten diskutieren seit Jahrhunderten darüber

von Rabbiner Dovid Gernetz  30.05.2025

Tikkun Leil Schawuot

Nacht des Lernens

Die Gabe der Tora ist eine Einladung an alle. Weibliche und queere Perspektiven können das Verständnis dabei vertiefen

von Helene Shani Braun  30.05.2025