Talmudisches

Brunnen

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Wasser ist Leben. Das mag banal klingen, aber Gesellschaften, die den Wasserhahn jederzeit öffnen können und sauberes Trinkwasser erhalten, vergessen oft, dass der Mensch nur mit Wasser (und Nahrung) überlebensfähig ist. Wasser ist die Grundlage für den eigenen Konsum, aber auch für die Aufzucht von Pflanzen und letztendlich auch Vieh.

Der Brunnen (Be’er) oder die örtliche Zisterne (Bor), die aus einer Quelle (oder durch Regenwasser) gespeist wurden, waren zentrale Anlaufstellen der Gesellschaft. So berichtet die Tora, dass Awraham einen Brunnen in Beer Sheva grub (1. Buch Mose 21,30), während Jizchak die Brunnen seines Vaters wiederherstellte, die von den Philistern zugeschüttet worden waren (1. Buch Mose 26,18). In eine Zisterne ohne Wasser wird Josef von seinen Brüdern geworfen (1. Buch Mose 37,24) – die Tora verwendet hier das Wort »Bor« und muss deshalb erklären, dass »kein Wasser darin« war. Auch der Prophet Jirmejahu wird in eine Zisterne geworfen (Jirmejahu 38,6), in der sich zwar kein Wasser befand, deren Boden jedoch mit Schlamm bedeckt war.

Diese Zisternen scheinen tatsächlich nicht ungefährlich gewesen zu sein, denn die Tora mahnt, mit ihnen verantwortungsbewusst umzugehen: »Wenn jemand ein Bor öffnet, oder wenn jemand ein Bor gräbt und nicht zudeckt, und es fällt hinein ein Ochse oder ein Esel, so soll der Eigner des Bor den Preis bezahlen an dessen Eigner, und das tote Vieh bleibe sein« (2. Buch Mose 21, 33–34). Daraus hat die Mischna später eine »Hauptschädigung« gemacht, und es wurden Regeln zum Umgang damit aufgestellt. So heißt es (Bawa Kamma 1,1): »Vier Hauptschädigungen gibt es: die durch den Stoß des Ochsen, durch den Bor, durch das abweidende Vieh und durch den Brand.«

Brunnen als »kommunale« Aufgabe

Brunnen waren so wichtig, dass ihre Einrichtung schon in talmudischer Zeit als »kommunale« Aufgabe betrachtet wurde. So heißt es im Traktat Bawa Metzia (108a): »Raw Jehuda sagte: Jeder wird bei der Errichtung der Stadtmauer herangezogen, auch Waisen, die Gelehrten aber nicht, weil die Gelehrten den Schutz nicht brauchen. Zum Brunnengraben werden auch die Gelehrten herangezogen.«

Bei der Präsenz von Brunnen und Zisternen in den Gesellschaften der Zeit wundert es nicht, dass die Texte der Rabbinen diese als leicht zugängliche Metaphern verwendeten. Ein prominentes Beispiel in Pirkej Awot (»Sprüche der Väter«) in der Mischna ist Rabbi Jochanan ben Sakkai. Er verglich seine Schüler mit verschiedenen Arten von Brunnen. Rabbi Elieser ben Hyrkanos nannte er eine »ausgekalkte Zisterne, die keinen Tropfen verliert« (2,8), und Rabbi Eleasar ben Arach einen »aufsteigenden Quell«.

Aber damit nicht genug. Eine erste Brücke schlägt ein Ausspruch von Rabbi Chanina im Talmudtraktat Berachot (56b). »Wer einen Brunnen im Traum sieht, sieht Frieden, denn es heißt: ›Die Knechte Jizchaks gruben im Tal und fanden dort einen Brunnen lebendigen Wassers.‹« Rabbi Nathan sagte hingegen: »Er findet die Tora, denn es heißt: ›Wer mich findet, findet Leben‹, und dort heißt es: ›einen Brunnen lebendigen Wassers‹.« Rawa sagte: »Wirkliches Leben.« Die Argumentation ist: Brunnen stehen für Leben, also auch für die Tora – Leben nicht nur durch die »Lieferung« von Wasser.

Unter Wasser sei die Tora zu verstehen, heißt es

Diese Lehre finden wir auch im Traktat Bawa Kamma (82a), wo es eigentlich um die Frage geht, warum die Tora dreimal in der Woche öffentlich gelesen wird: »Hat Ezra dies angeordnet? Das ist doch eine frühere Bestimmung!? Es wird gelehrt: ›Und sie wanderten drei Tage in der Wüste und fanden kein Wasser‹ (2. Buch Mose 15,22). Die Schriftausleger erklärten, unter Wasser sei die Tora zu verstehen, denn es heißt: ›Auf, ihr Durstigen alle, kommt herbei zum Wasser!‹« (Jeschajahu 55,1).

Wasser ist die Tora, und Brunnen sind dementsprechend ihre »Verbreitung«. Wenn Jizchak also die Brunnen wieder öffnet, die von den Philistern zugeschüttet wurden, dann bemüht er sich auch darum, das geistige Erbe seines Vaters wieder zu öffnen und zugänglich zu machen. Beides müssen wir heute gleichermaßen sicherstellen.

Die in Genf geborene Schweizer Schriftstellerin und Philosophin Jeanne Hersch aufgenommen im März 1999

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