Ki Tissa

Aus Liebe zum Volk

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Das zentrale Thema im Wochenabschnitt Ki Tissa ist die Erzählung vom Goldenen Kalb. Mosche hat den Dekalog und die Anweisungen für Heiligtum und Priester erhalten, der Schabbat ist eingeführt, da fordert das Volk von Aharon, er solle ihnen Götter machen, die vor ihnen herziehen sollen. Hier murrt das Volk nicht nur gegen Gott. Es begeht seine schwerste Sünde gegen ihn. Seine bisherigen Selbsterweise gelten den Kindern Israel nichts mehr.

Von Mosche wird in der Tora einhellig berichtet, wie sehr er das Volk liebt und in Auseinandersetzungen zwischen den Kindern Israels und dem Herrn der Welt vermittelt. Dazu finden wir im Midrasch Sefat Emet Ausführungen von Rabbi Jehuda Leib Alter, der auch nach seinem Werk benannt wurde. 1847 in Warschau geboren, wuchs unter seiner Ägide die Chassidut Gur zu einer der bedeutendsten chassidischen Gruppen in Polen heran. Er verfasste zahlreiche Kommentare zu Tora und Talmud, die unter dem Namen Sefat Emet posthum veröffentlicht wurden. In Gur verstarb er 1905.

Nach Auslegung des Sefat Emet benutzt Mosche eine formale Ausrede gegenüber Gott und sagt: Auch wenn das Volk in Deinen Augen mit dem Guss des goldenen Stierbildes sündigte, kannst Du ihm dieses Verhalten letztlich nicht als Sünde anrechnen, weil ich nicht bei ihnen war. Nur wenn ich im Volk Israel anwesend bin, sagt Mosche zu Gott, ist dein Gebot »Ich bin Gott, dein Gott« bei ihnen in Kraft. Sobald ich nicht unter ihnen bin, ruht deine Kavod auf mir und ist fern der Kinder Israels.

»Ich bin Gott, dein Gott«

Mit dieser Argumentation Mosches setzt sich der Midrasch auseinander und stellt fest: Bei Mosche treffen zwei Lieben aufeinander, die von einem mächtigen Schmerz begleitet werden. Da ist zum einen seine Liebe zur Tora, zum anderen seine Liebe zu den Kindern Israels, die sich scheinbar als viel stärker erweist als die zur Tora.

Mosche war auf den Berg Sinai hinaufgestiegen, um die Geheimnisse der Tora zu studieren, um das 50. Tor ihrer Erkenntnis zu erreichen. An diesem Ort kam es zu einer sehr engen und intensiven Verbindung zwischen ihm und dem Ewigen. Er gelangte auf seine höchste spirituelle Stufe. Mosche aß, trank und schlief nicht. Er glich einem Engel. Er befand sich in Übereinstimmung mit der Tora und der Schechina, der Präsenz Gottes – ein Erlebnis, das sich jeder Beschreibung durch Worte entzieht und schon gar nicht erklären lässt.

Dieses Erfülltsein von der Tora Gottes bringt Mosche in Widerstreit mit seiner anderen Liebe, durch die er sich mit den Kindern Israels identifiziert. Diese verhalten sich oft undiszipliniert und ungehorsam gegenüber den Geboten des Ewigen. Mit der Anbetung des gegossenen Kalbs kommt es zum Höhepunkt ihrer Sünde, zur Entweihung der Tora. In einen größeren Zwiespalt konnte das Volk Mosche offenbar nicht bringen.

600.000 Buchstaben gibt es in der Tora, 600.000 Seelen zählte Israel in diesen Tagen

Für welche Liebe sollte er sich nun entscheiden? An dieser Stelle eröffnet uns ein Midrasch von Baruch Ben Jechiel von Miedzyborz eine interessante Sicht auf das Verhältnis von Tora und Volk. Er sagt: »600.000 Buchstaben gibt es in der Tora, und 600.000 Seelen zählte Israel in diesen Tagen. Und seitdem bleibt jede Seele aus Israel mit einem Buchstaben der Tora verbunden; so stehen sie miteinander vor der ganzen Tora.« Und Bozina diNehora, der Arizal, Rabbi Isaak Luria (1534–1572), ergänzt: »Die ganze Gemeinschaft Israels« sind »die Worte, die der Ewige gebot, sie zu tun«.

Und so folgert der Sefat Emet: Objektiv betrachtet, kann es keinen wirklichen Widerstreit zwischen der Liebe zur Tora und der zum Volk Gottes geben, denn die Tora gibt es nur mit Israel, um seinetwillen. Wenn das Volk Israel existiert, dann ist auch die Tora in Kraft. Ohne das Volk gibt es keine Tora – unabhängig vom Grad seines aktuellen Gehorsams. Demzufolge kann Mosches Liebe zum Volk und seine Liebe zur Tora nicht unterschieden werden. Sie sind identisch. Sie sind eins und können deshalb nicht miteinander konkurrieren.

Weiter kommt der Sefat Emet zu dem Schluss: Mosche zerbricht die Bundestafeln weniger aus einem Affekt heraus, aus Zorn über Israels Sünde. Er sieht vielmehr, wie sich die Buchstaben von den Tafeln verflüchtigen, wie sie wegfliegen zurück zu Gott. Die Tora flieht vor den Kindern Israels. Damit steht nichts weniger als die Existenz des Volkes auf dem Spiel.

Diese Entwicklung alarmiert Mosche und ruft sein prophetisches Handeln auf den Plan. Er selbst ist sündlos geblieben. Als makelloser Gerechter steht er dem gefallenen Volk und der beschädigten Tora gegenüber. Doch durch das Zerbrechen der Bundestafeln solidarisiert er sich radikal mit dem Volk. Er stellt sich damit vorbehaltlos auf die Seite der Sünder. Der Midrasch betont in diesem Zusammenhang: Die Tafeln wollten wohl aus eigener Kraft zerbrechen, aber sie konnten es nicht, weil Mosche sie in Händen hielt.

Die Tora ist auf Israel zugeschnitten

Nachdem er sie aus Liebe zum Volk zertrümmert hat, setzt Mosche alles daran, die Ordnung des Ewigen zwischen den Kindern Israels und der Tora wiederherzustellen. Er appelliert an Gottes Bereitschaft zur Vergebung und an die von ihm getroffene Entscheidung: Die Tora ist auf diese Nation, auf Israel zugeschnitten und ihm anvertraut. Mit beiden im Verbund soll der Ewige weiter zusammenarbeiten.

So kommt es nach 40 Tagen auf dem Sinai zu einer zweiten Auflage der Tafeln, die der Ewige diesmal Mosche in die Hand diktiert. Diese Erzählungen um das Zerbrechen der ersten Bundestafeln und ihre wiederholte Übergabe führen uns eindrücklich vor Augen: Die Tora ist nicht für die Gerechten und Sündlosen vorgesehen. Sie ist unterschiedslos für ganz Israel bestimmt.

Eine größere Liebe konnte Mosche dem Volk nicht erweisen. Mit dem Zerbrechen der Tafeln zerbrach er sich selbst. Er machte sich den Kindern Israels in ihrer größten und schwersten Sünde gleich und stellte sich in ihre Mitte. So bewährte er sich als bedeutendster Prophet seines Volkes.

Der Autor ist Rabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Bamberg und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).

Inhalt
Zu Beginn des Wochenabschnitts Ki Tissa wird Mosche damit beauftragt, die wehrfähigen Männer zu zählen. Es folgen Anordnungen für das Stiftszelt. Die Gesetze des Schabbats werden mitgeteilt, und es wird die Bedeutung des wöchentlichen Ruhetags als Bund zwischen dem Ewigen und Israel betont. Der Ewige gibt Mosche zwei Steintafeln, mit denen er ins Lager der Israeliten zurückkehrt. Dort haben sich die Wartenden in der Zwischenzeit ein Goldenes Kalb gegossen, dem sie Opfer darbringen. Im Zorn darüber zerbricht Mosche die Steintafeln, und der Ewige bestraft die Israeliten mit einer Plage. Später steigt Mosche auf den Berg und erhält neue Bundestafeln.
2. Buch Mose 30,11 – 34,35

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