Jitro

Auf Abwegen

Den richtigen Weg nicht zu kennen, ist oft nicht der Grund für moralische Fehltritte. Foto: Getty Images / istock

Können zwei Wörter die Entwicklung eines Volkes oder gar der gesamten Menschheitsgeschichte verändern?

Zweifellos ist die Offenbarung G’ttes am Berg Sinai und die damit verbundene Übergabe der Tora ein oder gar das Schlüsselereignis schlechthin für die Entstehung des jüdischen Volkes. Mit der Übergabe der Tora erhält das Volk gleichzeitig eine in Ewigkeit gemeißelte globale Aufgabe: Jeder Einzelne und die gesamte Gesellschaft sollen im Leben einen g’ttlich-moralischen Kodex anwenden. Diese Aufgabe hat Weltbedeutung!

Nicht umsonst verdeutlichen die Segenssprüche, die beim Aufruf zur Tora gesprochen werden, diesen Umstand: »Gelobt seist Du, Ewiger (...), der uns von allen Völkern erwählt hat und uns Seine Tora gegeben hat (...), die Lehre der Wahrheit, und ewiges Leben in uns gepflanzt hat. Natürlich verstärkt dies die Frage: Womit hat das jüdische Volk das verdient? Wie kommt es zu dieser Ehre oder, genauer gesagt, zu dieser Aufgabe mit Sondercharakter?

sinai Der Wochenabschnitt Jitro beschreibt, wie Mosche den am Fuß des Berges lagernden Israeliten davon berichtet, dass G’tt ihnen die Tora übergeben möchte. Diese reagieren darauf einmütig und ohne Umschweife: »Alles, was G’tt gesprochen hat, wollen wir tun!« (2. Buch Mose 19,8).

Mit einer kleinen Ergänzung kommt der Satz etwas später erneut vor: »Alles, was G’tt gesprochen hat, wollen wir tun, und wir wollen hören« (24,7). Zwei Worte sind es, die hier den gesamten Inhalt und dessen Besonderheit ausmachen: »Na’asse wenischma!« – »Wir wollen tun, und wir wollen hören!« Sie widersprechen jeglicher Logik, denn wie kann man etwas tun, bevor man es gehört hat?

Unsere Weisen zeigen sich von den zwei Worten äußerst beeindruckt. Im Talmud (Schabbat 88a) setzen sie die beiden Worte mit einem Mysterium gleich, das sonst nur den Engeln bekannt ist.

midrasch Nicht weniger mystisch schließt die Erzählung des Midrasch daran an: »Zur Stunde, da Jisrael ›wir wollen tun‹ dem ›wir wollen hören‹ vorangestellt hat, kamen 60 Myriaden (= 600.000) Dienst­engel und setzten jedem Israeliten zwei Kronen auf, eine für das ›wir wollen tun‹ und eine für das ›wir wollen hören‹. Und als Israel (mit dem Goldenen Kalb) sündigte, stiegen 120 Myriaden (= 1,2 Millionen) Engel der Zerstörung hinab und nahmen sie ab (...), und Mosche verdiente es, sie alle zu erhalten (...). In Zukunft wird der Heilige, gelobt sei Sein Name, sie uns zurückgeben.«

Manchen mag diese Schilderung aus dem jüdischen Kindergarten oder Religionsunterricht bekannt sein. Da es sich aber um einen Midrasch handelt, stellt sich hier für den Erwachsenen vor allem die Frage: Worin liegt der tiefere Sinn? Was ist mit den beiden Kronen gemeint? Warum erhielt sie Mosche, und in Zukunft werden sie zurückerstattet? Und warum brauchte es für das Aufsetzen der Kronen nur halb so viele Engel wie für deren Abnahme?

Die letzte Frage verschärft sich durch die Anmerkung der Tosafisten zu der Stelle: Stets überwiegt das gute, positive Maß gegenüber dem negativen (Talmud, Joma 76a), weswegen für das Aufsetzen doch eigentlich mehr Engel hätten kommen müssen als für die Abnahme.

Rabbi Jehuda Löw, der Maharal von Prag (1520–1609), wirft eine weitere Frage auf: Ein Engel kann jeweils nur eine Mission ausführen, zu der ihn G’tt sendet. Wie konnten also die ersten Engel zwei Kronen aufsetzen, handelt es sich dabei doch um zwei verschiedene Handlungen?

maharal Genau hierin liegt laut dem Maharal der Schlüssel: in der Distanz und Diskrepanz zwischen dem Willen zu hören und dem Willen auszuführen. Fehlende Erkenntnis des richtigen Weges ist oft nicht der Grund für so manchen moralischen Fehltritt oder für manche spirituelle Krise.

Oft weiß der Mensch, wie richtig gehandelt werden sollte, und dennoch weicht er vom geraden Weg ab. Grund dafür sind Triebe und Interessen, wie etwa Stolz und Ehrgeiz, Faulheit oder Lust, die eine Trennwand zwischen der intellektuellen Einsicht und deren entsprechender Umwandlung in die Tat herstellen. Wenn diese Abweichung zunimmt und zur Norm wird, kommen Ausflüchte und Rechtfertigungen zum Zuge.

»Es gibt stets eine Distanz zwischen Ideal und Realität. Man darf die Dinge nicht so extrem angehen, muss auch Kompromisse im Leben machen können und so weiter«, wird sich der Mensch gut zureden. Manchmal wird der Abstand zwischen den Prinzipien und der Wirklichkeit so groß, dass ein Abgrund der Verlogenheit und Selbstverleugnung zwischen ihnen klafft.

wille Der Ausruf »na’asse wenischma« zeugt vom genauen Gegenteil: »Wir sind bereit, zu tun, was auch immer wir hören!« Es gibt keinen Abstand zwischen dem Wissen um die richtige Handlungsweise und deren Ausführung. Das »Tun« und das »Hören« verschmelzen miteinander, sie werden durch ein und denselben Willen gesteuert.

Eigentlich wollten die beiden Worte gleichzeitig verkündet werden, doch da dies physisch nicht möglich ist, wird die Kongruenz der beiden dadurch verdeutlicht, dass das »Tun« dem »Hören« (und Verstehen) vorgezogen wird.

Dies erklärt, warum ein Engel imstande war, beide Kronen aufzusetzen. Denn es handelt sich nicht um zwei verschiedene Aktionen, sondern um ein und dieselbe – die bedingungslose Verbindung der beiden Aussprüche (Kronen). Diese übergangslose Akzeptanz des Gehörten zum Ausgeführten ist sonst allein den Engeln vorbehalten, die es in ihrem Wesen nicht anders kennen.

kluft Als die Israeliten jedoch mit dem Goldenen Kalb sündigten, verloren sie diese einzigartige, engelshafte Stufe. Die Kluft zwischen dem Hören und der Bereitschaft zu tun riss sofort auf und trennte die beiden Kronen voneinander. Die Ohren hörten zwar die Worte des Dekalogs, »Es sollen dir keine anderen Götter vor Meinem Angesicht sein«, doch im Eifer der Triebe wurden sie ausgeblendet, die Tat nahm andere, entgegengesetzte Gestalt an. Deswegen waren nun zwei Engel notwendig, um jede Krone zu entfernen.

Ein Beispiel für diese Kluft, die einem manchmal einfach nur vor Augen geführt werden muss, finden wir im philosophischen Grundwerk Hakusari von Rabbi Jehuda Halevi (1075–1141).

Der jüdische Gelehrte schildert dem König der Chasaren ausführlich und eindrücklich, welche geistigen Vorzüge das Land Israel für das jüdische Volk hat, bis hin zu der Aussage, dass wirkliches Leben im seelischen Sinne nur dort möglich ist.

reaktion Als Reaktion darauf fragt der König den Gelehrten: »Wenn dem so ist, was hast du hier dann noch zu suchen? Sind deine steten Bitten und Gebete für die Rückkehr ins Heilige Land nichts mehr als eine geheuchelte Handlung?« Doch der Gelehrte versucht nicht, sich in Ausreden zu flüchten. Schlicht und ehrlich gibt er zu: »Du hast meine Schande enthüllt« (2, 23–24).

Das Werk endet mit den Vorbereitungen des Gelehrten, sich ohne Wenn und Aber auf den Weg ins Gelobte Land zu machen, genauso wie Rabbi Jehuda Halevi es tat.

Mosche hat diese Kraft beibehalten. Bei ihm befinden sich Hören und Tun stets demütig im Einklang. Beide Kronen blieben ihm erhalten. Dies verlieh ihm besondere Strahlkraft, im Gegensatz zu den Israeliten (2. Buch Mose 34,30), die sie verloren hatten.

Doch streben wir in Zukunft an, uns wieder beider Kronen zugleich würdig zu erweisen und sie ebenfalls als himmlisches Geschenk zurückzuerhalten.

Der Autor ist Rabbiner in Israel.

inhalt
Die Tora stellt Mosches Schwiegervater Jitro als religiösen und
weisen Menschen dar. Er rät Mosche, Richter zu ernennen, um das Volk
besser zu führen. Die Kinder Israels lagern am Fuß des Berges Sinai und müssen sich drei Tage lang vorbereiten. Dann senkt sich Gottes Gegenwart über die Spitze des Berges, und Mosche steigt hinauf, um die Tora zu empfangen.
2. Buch Mose 18,1 – 20,23

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