Ultrakoscher

Angstschweiß am Sederabend

Wenn an Pessach mal etwas zu Bruch geht ... Foto: Ben Gershon

Davids Eltern sind nicht reich. Sein Vater arbeitet im IT-Sektor, und die Mutter ist Sekretärin. Trotzdem reisen sie dieses Jahr über die Pessachtage in die Schweizer Berge. Das Hotel »Matterblick« hat keine fünf Sterne, aber immerhin drei. Es gibt eine Sauna, einen Fitnessraum und eine imposante Aussicht auf die Alpen.

Davids Mutter träumte schon lange von Pessachferien. Sie sagte vor ein paar Monaten: »Dieses Jahr will ich mich endlich mal in einem Koscher-Hotel verwöhnen lassen!« Der Vater antwortete: »Ja, das wäre schön. Ist aber viel zu teuer.« Doch sie bestand darauf: »Dieses Jahr fahren wir!« Er sagte: »Das können wir uns nicht leisten, David hat mit Gitarrenunterricht angefangen.« Sie war gereizt: »Gut, dann bleiben wir zu Hause – und du putzt die Wohnung.« Er: »Musst du wieder mit Streiten anfangen?« Sie: »Nein, du hast ja recht. Wir streiten jetzt nicht und fahren trotzdem weg!«

Pickel David saß während des Gesprächs am Frühstückstisch und aß seine Cornflakes. Er hat andere Probleme. Vor ein paar Monaten ist er 13 Jahre alt geworden. Fast gleichzeitig mit der Barmizwa bekam er Pickel! Besonders arg hat es seine Nase erwischt. David ist derart verzweifelt, dass er sogar seine dumme Schwester um Tipps bittet, was man dagegen tun kann. Noch hat aber kein Wässerchen wirklich geholfen. Überhaupt ist David seit der Barmizwa ein anderer Junge geworden. Er hat sich für den freiwilligen Philosophie-Kurs in der Schule eingeschrieben und denkt viel über Umweltschutz und Weltfrieden nach. Außerdem sitzt dort zwei Reihen links vor ihm Melanie. David will aber nicht, dass wir mehr darüber schreiben.

Die Mutter hat sich also durchgesetzt, und Davids Familie fährt in die Schweiz. Hier ist alles ein bisschen anders. Die Leute sprechen ein Kauderwelsch und sind eher langsam. Von der langen Autofahrt bekommt David nicht so viel mit. Er pennt oder spielt mit Papas Handy. Die Schwester knetet einen Kaugummi im Mund und denkt wahrscheinlich die ganze Zeit an ihren Jens, der leider nicht Jude ist, sondern Christ.

eindringlinge Es regnet, als sie im Dorf ankommen. David schaut aus dem Fenster. Wo er hinblickt, sieht er nur Rabbiner. Sie spazieren die Straßen hinunter, hinter ihnen trollen sich Dutzende von Kindern. Aus den Geschäften treten dicke Frauen mit noch dickeren Einkaufstüten. Im kleinen Opel Corsa wird es plötzlich still. Dann sagt Vater ein ganz schlimmes Fluchwort, worauf es wieder lange still ist. Sie sehen nun das Hotel. Dort sieht es aus wie in Jerusalem! In der Lobby rennen Knaben mit langen Schläfenlocken umher, am Empfang wieselt ein Rabbiner herum. Er mustert die Eindringlinge. Davids Vater wird nervös. In solchen Situationen fingert er an seiner Armbanduhr herum. Als er um die Schlüssel bittet, blicken ihn etwa 50 Kinder an, die immer näherkommen.

Im Zimmer dann bittet der Vater David und seine Schwester, kurz vor die Tür zu gehen. Er wolle mit Mama etwas besprechen. Sie hat sich nämlich ein Hotel ausgesucht, in das normalerweise nur Ultraorthodoxe gehen. Und so stehen David und seine Schwester bestimmt eine Viertelstunde vor der Tür. Neben ihnen versammelt sich die Kinderschar des Hotels. Die dumme Schwester trägt einen kurzen Rock. David versucht zu lächeln. Er denkt an seinen alten Religionslehrer. Er möchte jetzt gerne einen hebräischen Spruch aufsagen, aber es fällt ihm nichts ein. Endlich wird die Tür geöffnet, und die beiden schlüpfen ins Zimmer.

Familiensitzung! Der Vater beginnt mit einem russischen Sprichwort: »Wenn du in der Sch... steckst, musst du versuchen sie aufzuessen!« Also das Beste daraus machen. Da weiß er aber noch nicht, dass das Schlimmste erst noch kommt: Der Sederabend im großen Speisesaal wird nicht zentral geleitet, sondern jede Familie muss ihn selbst aufsagen. Als der Vater das mitbekommt, fingert er so heftig an seiner Uhr, dass die fast runterfällt. Die Rabbiner werden ihm beim Seder zugucken und die Kinder sicher über seine Aussprache lachen. Davids Familie hat Plätze mitten im Saal bekommen, im Blickfeld aller. Oj Gewalt! David will seinem Vater als Aufmunterung das russische Sprichwort wiederholen, aber dieser wirft ihm einen finsteren Blick zu.

rauschebart Doch da bemerkt er etwas hinter sich. Ein rothaariges Mädchen scheint ihn schon lange zu mustern. David guckt sie an, sie schaut schnell weg. Wow, die sieht aber klasse aus, denkt er sich. Fast so wie Melanie. Ihr Vater hat einen langen, roten Rauschebart und wirkt echt sympathisch. Einmal kommt er sogar an ihren Tisch und hilft Davids Vater. Der ist so verlegen, dass er aufstehen will und dabei die ganze Sederschüssel runterwirft. Jetzt lachen tatsächlich ein paar Kinder. Barbarossa aber lädt ihn spontan zu sich ein. Und so sitzen zwei ziemlich verschiedene Familien an einem Tisch.

Und soll ich euch etwas sagen? Es war Davids schönstes Pessach. Natürlich ist das mit dem hübschen Mädchen nichts geworden. Sie warfen sich unentwegt Blicke zu, aber das war’s dann auch schon. Doch nächstes Jahr will Davids Familie wieder ins »Matterblick« fahren. Sein Vater sagt, er werde bis dahin Jiddisch lernen. Na, mal abwarten.

Plädoyer

Traut euch!

Der Schritt in die Ehe ist für junge Jüdinnen und Juden der richtige, meint unser Autor. Einen Versuch ist es wert

von Alfred Bodenheimer  29.05.2023

Zerbst

Schmähplastik erhält Gegendenkmal

Die Kirchengemeinde Zerbst will der judenfeindlichen Hassbotschaft eine Botschaft der Toleranz entgegensetzen

 25.05.2023

Umfrage

Wie verbringen eine Rabbinerin und eine Rebbetzin das Fest?

Wir haben sie gefragt

 25.05.2023

Schawuot

Das zeitlose Gesetz

Warum die Tora sich von anderen Rechtsschriften grundsätzlich unterscheidet

von Rabbiner Dovid Gernetz  25.05.2023

Talmudisches

Milch und Honig

Warum es Brauch ist, an Schawuot Milchprodukte und Honig zu essen

von Noemi Berger  25.05.2023

Schawuot

Zentralisierter Kult

Am Wochenfest mussten alle Israeliten nach Jerusalem hinaufziehen, um ihre Opfergaben im Tempel darzubringen

von Rabbiner Walter Rothschild  25.05.2023

Vordenker

Moral und Dilemma

Leo Baeck war während der NS-Zeit oberster Vertreter der deutschen Juden. Seine Rolle brachte ihn in Zwangslagen. Doch blieb der Rabbiner moralische Instanz und Leitfigur - und Symbol eines Neuanfangs

von Verena Schmitt-Roschmann  23.05.2023

Statistik

Alle sind gemeint

Was die biblische Zählung der Israeliten mit den jüdischen Gemeinden heute zu tun hat

von Rabbiner Andreas Nachama  19.05.2023

Talmudisches

Wunder in der Gegenwart

Was eine Hochzeit mit der Spaltung des Schilfmeers gemeinsam hat

von Yizhak Ahren  19.05.2023