Kol Nidre

Alle Gelübde

Gebet in Corona-Zeiten: Jom Kippur im Freien vergangenes Jahr in Emek Hefer, Israel Foto: Flash90

Am Vorabend von Jom Kippur ist es Brauch, dem eigentlichen Versöhnungstag eine außergewöhnliche Zeremonie voranzustellen: Drei fromme Vorbeter stehen gemeinsam mit zwei Torarollen vor der versammelten Gemeinde in der Synagoge und rezitieren einen sehr melodischen aramäischen Text, dessen erklärte Absicht es ist, alle Gelübde und Schwüre der Anwesenden zu annullieren.

Dieses zunächst vielleicht ungewöhnlich anmutende Gebet nennt sich Kol Nidre, auf Deutsch: »alle Gelübde«. Obwohl es in seiner bekannten Form erst aus dem Mittelalter stammt, liegen die Gründe für seine Entstehung schon in bib­lischer Zeit.

relevanz »Legt jemand vor dem Ewigen ein Gelübde (Neder) ab oder schwört einen Schwur, um dadurch seiner Seele ein Verbot aufzuerlegen, so darf er sein Wort nicht entheiligen. Ganz gemäß dem, was aus seinem Munde gekommen ist, soll er tun« (4. Buch Mose 30,3). Die Tora spricht hier über ein vielfältiges Spektrum an Gelübden (Nedarim). Von besonderer Relevanz sind dabei diejenigen Gelübde, die mit der Intention abgelegt werden, sich selbst etwas zu verbieten.

Die Tora spricht über ein vielfältiges Spektrum an Gelübden.

Zwar enthält die Tora bereits 365 Verbote, doch bietet sie in diesem Abschnitt mit dem Prinzip der prohibitiven Gelübde dem Einzelnen auch noch die Möglichkeit, sich individuell zusätzliche Verbote aufzuerlegen.

Was heute vielleicht zunächst befremdlich klingen mag, war in der Antike und auch noch in der späteren jüdischen Tradition gang und gäbe. »Nedarim sind ein Zaun um die Frömmigkeit«, heißt es etwa in der Mischna (Awot 3,13).

Verbote Die tannaitischen Gelehrten wollten damit ausdrücken, dass zusätzliche Verbote, die der Mensch in seinem Alltag individuell auf sich nimmt, dabei helfen können, etwa übermäßig genießerisches Verhalten einzuschränken. Eine der üblichsten Gelübdeformeln der talmudischen Zeit lautete daher: »Konam, ich schwöre, dass ich diese Speise nicht probieren werde« oder »dass ich keinen Genuss von jener Sache haben werde«.

So verbreitet waren Gelübde dieser Art in alter Zeit, dass der Talmud ihnen nicht nur einen ganzen Traktat widmet, sondern Diskussionen rund um dieses Thema sich auch in anderen Bereichen der Gemara finden lassen.

Die Universalität von Schwüren und Gelübden brachte aber auch vielfältige Probleme mit sich. Denn in der Tora heißt es weiter: »Legst du ein Gelübde ab vor dem Ewigen, deinem Gott, so versäume nicht, es zu erfüllen …, (da sonst) eine Sünde an dir sein wird … (Das Gelübde, das) deine Lippen hervorbringen, beobachte und tue …« (5. Buch Mose 23, 22–24).

Ein einmal aufgenommener Neder muss demnach strengstens erfüllt werden. In der antiken Welt, in der täglich, oft ganz nebenbei, sehr viele Gelübde abgelegt wurden, war aber die Gefahr groß, dass man nicht alle seine Gelübde tatsächlich beachtete.

DILEMMA Dieser Umstand war eines der großen halachischen Dilemmata der Zeit des Zweiten Jerusalemer Tempels, das unterschiedliche Lösungen hervorbrachte. Eine verbreitete Meinung spricht Rabbi Meir aus (Nedarim 9a, vgl. Kohelet 5,4): »Am besten ist es, wenn man gar keinen Neder auf sich nimmt.«

Einen zusätzlichen Umgang mit diesem Problem haben die rabbinischen Weisen mit dem Prinzip der »Hatarat Nedarim«, der »Auflösung von Nedarim«, gefunden (Mischna, Chagiga 1,8).

Zwar können Nedarim nicht einfach umgestoßen werden, doch können sie, so die Idee, rückwirkend für nichtig erklärt werden, wenn ein »Petach«, ein »Zugang«, ein Grund, gefunden wird, warum der Gelobende diesen Neder wohl nicht auf sich genommen hätte, wenn er vorab gewusst hätte, welche Schwierigkeiten die Erfüllung mit sich bringen würde.

Das Gebet leitet uns würdevoll in den großen Tag der Umkehr hinüber.

Eine solche »Hatarat Nedarim« erfolgte aber nur sehr bedacht. Vor allem konnte sie nicht vom Gelobenden selbst durchgeführt werden. Es bedurfte dafür eines Toragelehrten oder eines Beit Din, einer Versammlung von drei Richtern.

Reinigung Da Gelübde und somit auch der Verstoß dagegen noch in nach-talmudischer Zeit üblich blieben, der Prozess des Auflösens von Nedarim aber umständlich war, entstand im Volk der Wunsch, sich zumindest vor Jom Kippur, dem großen Versöhnungstag, auch von der Sünde der nicht-erfüllten Gelübde – oder der nicht absichtlich abgelegten Gelübde – umfassend zu reinigen. So entstand in früh-geonischer Zeit (vor dem 9. Jahrhundert n.d.Z.) auf Grundlage einer Stelle in der Gemara (Nedarim 23b) das Kol-Nidre-Gebet, dessen Zweck es ebenfalls ist, Gelübde für nichtig zu erklären.

Viele der geonischen Gelehrten jener Zeit waren allerdings gegen das Aufsagen von Kol Nidre (Raw Amram Gaon etwa nannte es einen »unsinnigen Brauch«), da es das einfache Volk dazu verführe, ihre Nedarim nicht ernst zu nehmen.

Spätere Halachisten haben sich intensiv mit der Frage befasst, ob nach dem jüdischen Religionsgesetz das Kol Nidre überhaupt die juristischen Bedingungen erfülle, um Gelübde annullieren zu können (von Rabbenu Tam, 12. Jahrhundert, bis Baal Halewuschim, 16. Jahrhundert).

Wie dem auch sei, das Kol Nidre ist auf jeden Fall ein ernstes und reuevolles Gebet um Vergebung für die alltäglichsten Sünden, die uns das ganze Jahr über begleiten, und entsprechend würdevoll leitet es uns in den großen Tag der Umkehr hinüber.

Der Autor ist Rabbiner und lebt in Berlin.

Talmudisches

Lügen aus Gefälligkeit

Die Weisen der Antike diskutierten darüber, wann man von der Wahrheit abweichen darf

von Rabbiner Netanel Olhoeft  13.09.2024

Zedaka

Geben, was uns gegeben wurde

Warum man sich im Monat Elul Gedanken über die Motive der eigenen Wohltätigkeit machen sollte

von Rabbiner Raphael Evers  13.09.2024

Ki Teze

»Hüte dich vor allem Bösen«

Was die Tora über ethisch korrektes Verhalten bei Militäreinsätzen lehrt

von Yonatan Amrani  12.09.2024

Berlin

»Ein bewegender Moment«

Am Donnerstag fand in Berlin die feierliche Ordination von zwei Rabbinerinnen sowie sechs Kantorinnen und Kantoren statt. Doch auch der monatelange Streit um die liberale Rabbinatsausbildung in Deutschland lag in der Luft

von Ralf Balke  09.09.2024 Aktualisiert

Potsdam/Berlin

Neue Stiftung für Ausbildung von Rabbinern nimmt Arbeit auf

Zentralratspräsident Schuster: »Die neue Ausbildung öffnet wichtige internationale Horizonte und Netzwerke innerhalb des liberalen und konservativen Judentums«

von Yvonne Jennerjahn  13.09.2024 Aktualisiert

Schoftim

Das Wort braucht auch die Tat

Warum Gerechtigkeit mehr als nur leeres Gerede sein sollte

von Rabbiner Alexander Nachama  06.09.2024

Talmudisches

Bedürfnisse der Bedürftigen

Was unsere Weisen über zinslose Darlehen lehrten

von Yizhak Ahren  06.09.2024

Sanhedrin

Höher als der König

Einst entschieden 71 Gelehrte über die wichtigsten Rechtsfragen des Judentums. Jeder Versuch, dieses oberste Gericht wiederaufzubauen, führte zu heftigem Streit – und scheiterte

von Rabbiner Dovid Gernetz  06.09.2024

München

Rabbiner offerieren »Gemeindepaket«

Mit besonders auf kleine Gemeinden abgestimmten Dienstleistungen will die Europäische Rabbinerkonferenz halachische Standards aufrechterhalten

 05.09.2024