Interview

»Wir sind ein fordernder Partner Israels«

Herr Gabriel, die deutsche Sozialdemokratie feiert heute ihren 150. Geburtstag. Welche Bedeutung haben ihre jüdischen Wurzeln für die SPD?
Eine enorm große. Jüdische Intellektuelle haben die deutsche Sozialdemokratie maßgeblich geprägt. Ferdinand Lassalle zum Beispiel hat vor genau 150 Jahren den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein gegründet. Das ist der erste Vorläufer der SPD gewesen. Ohne Lassalle ist die Geschichte der SPD nicht denkbar. Genauso wichtig waren für die Partei auch der frühere Vorsitzende Paul Singer, der Theoretiker Eduard Bernstein und der Pazifist Hugo Haase.

Die jüdischen Mitglieder der Partei gehörten damals überwiegend zum Bürgertum. Ein Widerspruch?
Überhaupt nicht. Die Arbeiterbewegung ist immer auch durch Bürgerliche bestimmt worden, die die soziale Emanzipation in den Mittelpunkt ihres Wirkens gestellt haben. Lassalle etwa war zwar finanziell unabhängig und ein Lebemann, das hielt ihn aber nicht davon ab, sich für rachitische Kinder in Kohlebergwerken einzusetzen. Das Bündnis von klassenbewusster Arbeiterschaft, linken Intellektuellen und aufgeklärtem Bürgertum ist damals wie heute der einzige Erfolg versprechende Weg für die Sozialdemokratie, Mehrheiten zu erhalten.

Ist das jüdische Erbe in der SPD heute noch präsent?
Der intellektuelle Einfluss reicht bis in die Gegenwart. Denken Sie nur an die Debatten um Rosa Luxemburg, die uns bis heute beschäftigen. Diese jüdisch-sozialdemokratische Tradition haben die Nationalsozialisten 1933 unterbrochen, indem sie die deutschen Juden zuerst vertrieben und dann ermordet haben. Bis heute ist diese Lücke schmerzlich spürbar – auch wenn es mit dem Arbeitskreis Jüdischer Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten glücklicherweise wieder eine jüdische Strömung in der SPD gibt.

Dieser Arbeitskreis hat sich 2007 gegründet. Welche Rolle spielt er in der SPD?
Der Arbeitskreis sorgt innerhalb der Partei zuerst einmal für Aufklärung zu spezifisch jüdischen Themen. In der aus meiner Sicht vollkommen skurrilen Beschneidungsdebatte hier in Deutschland hat er dazu beigetragen, dass die SPD eine vernünftige Haltung zu diesem Thema vertreten hat. Insofern ist der Arbeitskreis in diesem Punkt fester Bestandteil der politischen Willensbildung innerhalb der deutschen Sozialdemokratie. Er beschäftigt sich darüber hinaus aber auch mit vielen anderen Themen wie Bildung, Wirtschaft und Gerechtigkeit.

Gleichwohl spielt das Judentum für den Arbeitskreis eine zentrale Rolle. Das Verhältnis von Religion und Politik ist bekanntlich nicht immer unproblematisch. Wie viel Bekenntnis verträgt die Politik?
Ich glaube, dass religiöse Bindungen im Kern wichtige Wertentscheidungen beinhalten. Allzu große Unterschiede zwischen den Zehn Geboten und den ersten Artikeln unserer Verfassung kann ich nicht erkennen. Diese Wertentscheidungen helfen dabei, in unserer komplexen Wirklichkeit Orientierung zu finden. Auch mir persönlich hat mein evangelischer Glaube etwa beim Thema Stammzellenforschung und Schwangerschaftsabbruch sehr geholfen. Der Rechtsstaat muss bei solchen Wertentscheidungen aber aufpassen, dass das religiöse Bekenntnis nicht zur Voraussetzung für andere erhoben wird. Das muss jeder selbst entscheiden können.

Die Vertreter des Arbeitskreises versicherten bei der Gründung, dass die SPD dezidiert israelfreundliche Positionen vertrete. Im November 2012 sprach SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles plötzlich von »gemeinsamen Werten« mit der Fatah. Wie passt das zusammen?
In Bezug auf die Fatah bin ich selbst der Letzte, der sich irgendwelchen romantischen Illusionen hingibt. Wir als SPD bemühen uns aber darum, auch auf Parteien wie die Fatah Einfluss zu nehmen und ihnen den Weg hin zu einer Demokratisierung zu erleichtern.

Zentralratspräsident Dieter Graumann bezeichnete Frau Nahles’ Einschätzung damals als Skandal. Die SPD mache sich gemein mit einer antisemitischen Terroror- ganisation, weshalb er die Regierungsfähigkeit Ihrer Partei anzweifelte. Wie reagieren Sie auf solche Kritik?
Gelassen. Die Fatah ist immerhin offizieller Gesprächspartner der israelischen Regierung. Es ist nicht im Sinne Israels, zu übersehen, welche Entwicklung die Fatah insgesamt gemacht hat. Dass sie Israels Existenzrecht mittlerweile nicht mehr bestreitet und beide Seiten in Sicherheitsfragen zusammenarbeiten, sind wichtige erste Schritte. Man muss miteinander reden, um sich auf die Suche nach gemeinsamen Lösungen machen zu können.

Heftig umstritten war auch Ihre Äußerung über Hebron im vergangenen Jahr. Auf Facebook schrieben Sie: »Das ist ein Apartheid-Regime, für das es keinerlei Rechtfertigung gibt.«
Ich verstehe, dass dieser Vergleich vielen innerhalb und außerhalb Israels wehtut. Aber was in Hebron geschieht, ist Unrecht und ist eigentlich mit dem Selbstverständnis des Staates Israel nicht zu vereinbaren. Denn Israel ist die einzige Demokratie in der Region. Schon deshalb habe ich übrigens nicht Israel mit dem alten Apartheidstaat Südafrikas verglichen, sondern die Zustände in Hebron. Ich war weder der erste, dem dieser Vergleich beim Besuch in Hebron in den Sinn gekommen ist, noch werde ich der Letzte gewesen sein.

Würden Sie den Hebron-Post rückblickend heute so noch einmal veröffentlichen?
Ich würde den Apartheid-Vergleich heute aus israelischen Zeitungen zitieren, denn dort taucht er in den politischen Debatten auch immer wieder auf. Vermutlich würde ich ein paar Sätze mehr sagen, damit klar ist, worauf sich meine Kritik bezieht. Aber Empörung über Unrecht würde ich nie für mich behalten, nur weil es dafür auch heftige Kritik hageln kann.

Kritik von anderer Seite gibt es, weil die SPD zum Parteijubiläum einen Wald in Israel spenden will. Die Partei unterstütze die »Judaisierung« der Negevwüste, lautet der Vorwurf.
Nun, bei der Kritik an dem SPD-Wald geht es vor allem um die Frage, ob es sich eigentlich um Land handelt, das den Beduinen gehört. Das müssen israelische Gerichte klären. Und es gibt darüber hinaus Kritik an der Abwicklung über den Jüdischen Nationalfonds. Ich finde diese Kritik, offen gesagt, etwas überhöht. Es zeigt zudem einmal mehr, dass man immer mal Ärger bekommen kann, wenn man sich mit Israel und Palästina auseinandersetzt. Aber das lässt sich aushalten.

Sie haben vorhin gesagt, dass Sie in keiner anderen Region so oft gewesen seien wie in Israel. Worin gründet dieses besondere Verhältnis zum jüdischen Staat?
Das ist eine Mischung aus vielen Dingen. Zunächst einmal ist es dort einfach sehr schön. Faszinierend ist Israel für mich auch, weil dort die drei monotheistischen Weltreligionen ihren Ursprung haben. Darüber hinaus habe ich gute Freunde in Israel, schon allein deswegen bin ich immer wieder da. Einige wohnen in einem Kibbuz direkt am Gazastreifen und leben seit Jahren mit der alltäglichen Bedrohung durch die Kassam-Raketen. Und natürlich suche ich als Deutscher, der sich mit der Geschichte seines Landes beschäftigt, auch Kontakt zu denjenigen, die unsere Kultur so unendlich bereichert haben und dann zu den Opfern unseres Landes gehört haben. Nicht zuletzt spielt indirekt sicherlich auch meine eigene Familiengeschichte eine gewisse Rolle.

Inwiefern?
Mein Vater war ein bekennender Auschwitzleugner – gleichzeitig hat meine erwachsene Tochter auf mütterlicher Seite jüdische Vorfahren, die in Auschwitz ermordet wurden. Wir waren beide gerade auf Spurensuche in Yad Vashem und mussten erfahren, dass sie mit dem letzten Berliner Transport, dem sogenannten »Fabriktransport«, deportiert wurden und vor ihrer Ermordung auch noch für medizinische Experimente des Herrn Dr. Mengele herhalten mussten. Auschwitzopfer und Auschwitzleugner in einer Familie: eine geradezu irrwitzige, aber eben auch leider durchaus typische deutsche Geschichte.

Wie geht man damit um, wenn der eigene Vater die Schoa leugnet?
Das ist sehr schwer zu beantworten. Jedenfalls waren ernsthafte Gespräche mit ihm darüber nicht zu führen. Er lebte in der geschlossenen Welt seiner Ideologie, nach der nicht sein konnte, was nicht sein durfte. Auschwitz war für ihn eine reine Erfindung der Amerikaner, um die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg unter Druck zu setzen. Und ich, der das für eine Ausgeburt der NS-Propaganda hielt, war für ihn ein »Opfer amerikanischer Umerziehung«, das in seiner »Verblendung« die angebliche historische Wahrheit nicht erkennen konnte. So war seine unbeirrbare Haltung, die natürlich auch zum Abbruch unserer Beziehungen geführt hat. Es ging einfach nicht mehr. Nachdem er gestorben war und ich seinen Nachlass ordnen sollte, fand ich dann in seiner Wohnung einen Stapel Ausgaben der rechtsradikalen National-Zeitung. Dort hatte er ein Interview gegeben. »Wenn Sigmar Kanzler wird« lautete die Überschrift. Das war schon hart. Mein Umgang damit war, mich dagegen zu verwahren – als Privatperson und erst recht als Politiker.

Am 22. September sind Bundestagswahlen. Was können jüdische Wähler erwarten, wenn die SPD regiert?
Dasselbe wie alle anderen Wählerinnen und Wähler: die Bändigung des Kapitalismus, die Wahrung der sozialen Marktwirtschaft, mehr Investitionen in Bildung und einen fairen Lastenausgleich. In Bezug auf Israel werden wir alles daran setzen, die guten deutsch-israelischen Beziehungen fortzuführen und weiter auszubauen. Wir werden allerdings auch ein kritischer und fordernder Partner sein – sowohl in Bezug auf den Friedensprozess als auch mit Blick auf die Zweistaatenlösung.

Das Gespräch führten Detlef David Kauschke und Philipp Peyman Engel.

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