Position

»Wir sind da. Und wir bleiben«

»Unser Judentum in diesem Land soll wieder blühen«: Dieter Graumann Foto: Gregor Zielke

75 Jahre Reichspogromnacht: Runde Zahlen können drücken und schmerzen auf der Seele. Der 9. November 1938 war, wie wir wissen, weder Anfang noch Höhepunkt der Judenvernichtung und der Judenverfolgung in der Nazizeit. Aber die Splitter von Glas, der Ausbruch von finsterer Feindseligkeit haben damals die Gefühle der Juden in diesem Land zerschmettert und tiefe Löcher brutal in ihre Seelen gerissen. Denn spätestens von diesem Zeitpunkt an wusste doch jeder Jude hier, so sehr er sich deutsch fühlte, so sehr er sich mit jeder Faser unbedingt deutsch fühlen wollte: Hier hatte der reine Judenhass die Macht übernommen. Und kein genereller, anonymer Hass war es. Nein: Es war der ganz konkrete Hass von vielen, vielen einzelnen Menschen.

Der 9. November 1938 war eine Detonation an Vandalismus, an Mordlust, an Sadismus und an Menschenfeindlichkeit. Die Bilder von brennenden Synagogen tragen wir seitdem immer in unseren Herzen. Wir waren zwar nicht selbst dabei, als die Synagogen hier brannten. Wohl aber brennen diese Bilder in uns. Und das tut weh. Das kann ich jedem versichern: Es tut noch heute weh. Es ist ein Schmerz, der einfach nicht vergehen will. Wir werden deshalb immer erinnern wollen, weil wir nicht vergessen sollen. Und wir werden nicht vergessen dürfen, gerade um es heute gemeinsam besser machen zu können.

zuversicht Machen wir es denn heute besser? In vielerlei Hinsicht: ja. Deutschland hat sich seiner historischen Verantwortung gestellt wie kein anderes Land auf der Welt. Das ist eine historische, moralische und politische Leistung, die nicht selbstverständlich ist und die einfach anerkannt werden muss. Natürlich gibt es noch immer und immer wieder Dinge, die kritisch anzusprechen sind, und gar nicht so wenige: Dass zum Beispiel in diesen Tagen auf deutschen Sportplätzen, auf deutschen Schulhöfen das Wort »Jude« generell als Schimpfwort benutzt wird, das ist eine brennende Wunde, das ist ein Skandal.

Und das kann keinen anständigen Menschen im Land gleichgültig lassen. Und wir haben erst vor kurzer Zeit einen Bericht über Antisemitismus im deutschen Fernsehen gesehen. Die Autoren sind am Ende zu dem Schluss gekommen, dass es den Antisemitismus in Deutschland nicht nur rechts und links gibt, sondern dass er längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Das wussten wir schon lange! (…)

Aber allen, die jetzt gleich wieder reflexhaft, generell und prinzipiell jüdisches Leben in Deutschland vom Ausland aus infrage stellen, sage ich: Jüdisches Leben ist hier sicher und bleibt sicher. Dafür stehe ich auch ein Stück. Jeder muss wissen: Ein Judentum in Hinterzimmern wird es hier mit uns bestimmt nicht geben. Wir Juden lassen uns nicht einschüchtern. Wer darauf wartet, der muss ewig warten und wird sein Ziel niemals erreichen. Resignation – nicht mit uns! Unsere Courage, unsere Kraft, unsere unverzagte Zuversicht bleiben immer ungebrochen.

aufbau Vor 75 Jahren brannten die Synagogen in diesem Land, und heute bauen wir auf der Asche, auf den Ruinen von damals wieder ganz neues jüdisches Leben auf. Wir bauen es auf mit den Sehnsüchten, mit den Wünschen, mit den Träumen, die uns tragen. Wir bauen es auf mit großer Entschlossenheit. Natürlich, das unermessliche Leid unserer Märtyrer tragen wir alle immerzu in unseren Herzen für alle Zeiten. Niemals kann sich daran etwas ändern. Aber wir sind entschlossen, dem jüdischen Leben gerade hier in Deutschland eine ganz neue, frische und positive Perspektive zu verschaffen.

Ein Beispiel dafür ist: Mitten in Berlin werden wir unseren neuen jüdischen Gemeindetag begründen: die größte Veranstaltung, die der Zentralrat der Juden jemals organisiert hat, mit über 700 Teilnehmern. Ein Dreivierteljahrhundert nach der mörderischen Reichspogromnacht, die damals so viele deutsch-jüdische Illusionen zerplatzen ließ und der die Krematorien und Gaskammern dann später erst noch folgten, stellen wir Juden in Deutschland fest, stolz und selbstbewusst: Wir sind da. Und wir bleiben da. Wir bauen hier, und gerade hier, unser frisches, vielfältiges und vielversprechendes neues Judentum gemeinsam auf. Unser Judentum in diesem Land soll wieder aufs Neue blühen, und blühen wird es. Da bin ich mir ganz, ganz sicher.

Auszüge aus der Rede des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland am 10. November in der Berliner Synagoge Beth Zion

Parteien

Justiz prüft Äußerungen nach Neugründung von AfD-Jugend 

Nach einer Rede beim AfD-Jugendtreffen prüft die Staatsanwaltschaft Gießen mögliche Straftatbestände

von 
janet Ben Hassin  10.12.2025

Debatte

Merz, Trump und die Kritik an der Migration

Deutschlands Bundeskanzler reagiert auf die Vorwürfe des US-Präsidenten

von Jörg Blank  10.12.2025

Debatte

Wie umgehen mit Xavier Naidoo?

Der Sänger kehrt auf die großen Bühnen zurück. Ausverkaufte Hallen treffen auf Antisemitismus-Vorfälle, anhängige Verfahren und eine umstrittene Entschuldigung - und auf die Frage, wie man heute dazu steht

von Stefanie Järkel, Jonas-Erik Schmidt  10.12.2025

Initiative

Bayerns Landtag will Yad-Vashem-Bildungszentrum in Freistaat holen

Die Idee hatte die Ampel-Koalition von Olaf Scholz: Eine Außenstelle der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Deutschland. Der Bayerische Landtag hat sich nun für einen Standort im Freistaat ausgesprochen

von Barbara Just  10.12.2025

Paris/Brüssel

EU-Gaza-Hilfe: Französischer Politiker hat »große Bedenken«

Benjamin Haddad, Frankreichs Staatssekretär für Europafragen, hat die Europäische Kommission aufgefordert, ihre Zahlungen an NGOs, die im Gazastreifen operieren, besser zu überwachen

 10.12.2025

Aufarbeitung

Französische Entnazifizierungs-Dokumente erstmals online abrufbar

Neue Hinweise zu Leni Riefenstahl und Martin Heidegger in der NS-Zeit: Künftig können Forscher online auf französische Akten zugreifen. Experten erwarten neue Erkenntnisse

von Volker Hasenauer  10.12.2025

Deutschland

Wegen Antisemitismus und AfD: Schauspiellegende Armin Mueller-Stahl (95) denkt ans auswandern

Armin Mueller-Stahl spricht offen über seine Gelassenheit gegenüber dem Tod – und warum aktuelle Entwicklungen ihn dazu bringen, übers Auswandern nachzudenken

 10.12.2025

Justiz

Mutmaßlicher Entführer: Chef eines israelischen Sicherheitsunternehmens packt aus

Die Hintergründe

 10.12.2025

Fußball

Sorge vor Maccabi-Spiel in Stuttgart

Tausende Polizisten, Metalldetektoren beim Einlass, Sorge vor Gewalt: Warum der Besuch von Maccabi Tel Aviv in der Europa League beim VfB aufgrund der politischen Lage kein sportlicher Alltag ist.

 10.12.2025