Halle

»Wir lassen uns unser Zuhause nicht nehmen«

Um kurz nach 12 Uhr tönt das hebräische Friedenslied aus dem Glockenspiel im Roten Turm von Halle - genau ein Jahr, nachdem ein antisemitischer Terrorist die ersten Schüsse auf die Synagoge der Stadt abfeuerte. »Hevenu Shalom alechem« lautet der Text: Wir wollen Frieden für alle.

Hunderte Menschen haben sich am Freitag auf dem Marktplatz vor dem Wahrzeichen der Stadt versammelt, um an die Opfer des rechtsextremen und antisemitischen Anschlags zu erinnern, der das ganze Land erschütterte.

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Das Gedenken auf dem Marktplatz weckt Erinnerungen an die Szenen in den Tagen nach dem Gewaltakt. Schon damals erklang hier das hebräische Lied, wie damals wollen die Menschen hier ein Zeichen setzen - dass sie den Hass und die Gewalt, die der Attentäter nach Halle brachte, nicht in ihrer Stadt haben wollen.

LIEBE An der Marktkirche hängt ein Transparent mit dem Versprechen: »Unsere Liebe ist stärker als der Hass«. Daneben brennen Kerzen, liegen Rosen und ein Engel aus Porzellan. »Nur für Euch, Jana und Kevin«, steht handgeschrieben auf einer Karte im Gedenken an die beiden Todesopfer des Anschlags.

Am 9. Oktober 2019 hatte ein antisemitischer Terrorist mit selbst gebauten Waffen das Feuer auf die Synagoge in Halle eröffnet. Darin nahmen gerade mehr als 50 Beter am Jom-Kippur-Gottesdienst teil. Sein Gewehr konnte das Schloss der Holztür nicht durchbrechen, seine Spreng- und Brandsätze, die er aufs Synagogen-Gelände warf, verpufften fast wirkungslos vor der Synagoge.

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Wahllos erschoss der Terrorist schließlich die 40 Jahre alte Jana L., die gerade an der Synagoge vorbeikam, und später den 20 Jahre alten Kevin S. in einem Dönerladen. Auf seiner Flucht verletzte er weitere Menschen, bevor ihn die Polizei festnehmen konnte.

Der heute 28 Jahre alte Deutsche Stephan B. hat die Tat gestanden und mit kruden, menschenverachtenden Verschwörungstheorien begründet. Seit Juli steht er vor Gericht, ein Urteil wird Ende des Jahres erwartet.

TRAUMA Am Freitag sollte es in Halle aber ausdrücklich nicht um den Attentäter gehen, sondern um die Menschen, die er getötet, verletzt oder für immer traumatisiert hat. »Heute ist der Tag für Kevin und Jana«, sagt Ismet Tekin. Er war damals in dem Dönerladen angestellt. Sein Bruder war vor Ort, als der Terrorist in das Geschäft stürmte und um sich schoss, Ismet Tekin kam kurz nach dem Attentat in den verwüsteten Laden.

Heute betreibt er das Geschäft. »Seit einem Jahr fühl ich mich gleich«, sagt er. Das vergangene Jahr sei »nicht leicht« für ihn und seinen Bruder gewesen. Nur mit Hilfe seiner Familie und seines Glaubens schöpfe Tekin jeden Tag neue Kraft.

Am Freitag enthüllt Tekin gemeinsam mit seinem Bruder und dem Opferbeauftragten der Bundesregierung, Edgar Franke, vor dem Imbiss eine Gedenkplakette, die an den Anschlag und die Toten erinnert. Eine solche Plakette hängt nun auch vor der Synagoge - dort enthüllt von einem Überlebenden aus der Synagoge mit dem Präsidenten des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, und dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Halle, Max Privorozki.

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Bei der Enthüllung der Gedenktafel sagte Schuster, er sei mit gemischten Gefühlen nach Halle gereist. Die Erinnerung an den Tattag löse immer noch Schmerz aus, gleichzeitig freue es ihn, wie sehr die Gemeinde zusammenstehe und wie viele Solidaritätsbekundungen es gegeben habe. »Wir werden uns noch viel stärker als bisher einsetzen für den Respekt vor den verschiedenen Religionen, einsetzen für Respekt vor unterschiedlicher Herkunft, einsetzen für die Menschenwürde«, betonte der Zentralratspräsident.

Er forderte zum Einsatz für Menschenwürde und Zusammenhalt auf: »Das schulden wir den Opfern dieses Anschlags.« Das »krude Menschenbild« des 28-jährigen Angeklagten trete im laufenden Gerichtsverfahren immer deutlicher zutage. »Mich beeindruckt tief die menschliche Größe der Zeugen im Prozess«, so Schuster. »Deutschland ist unser Zuhause und dieses Zuhause lassen wir uns nicht nehmen.«

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Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Halle, Max Privorozki, sagte, ein normales Leben werde für die Gemeinde so bald nicht wieder möglich sein. »Wir sind empfindlicher geworden als früher«, sagte er - auch mit Verweis auf Äußerungen von Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) über entstehende Personalengpässe bei der Polizei aufgrund der Schutzmaßnahmen vor jüdischen Einrichtungen.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier warnte in seiner Rede davor, zur Tagesordnung überzugehen: »Wir müssen zeigen, dass wir keine Form von Antisemitismus, ob alten oder neuen, linken oder rechten, tolerieren - mehr noch, dass wir ihn aktiv bekämpfen. Dieser Kampf geht uns alle an.« Antisemitismus sei ein »Seismograph« für den Zustand der Demokratie. Er selbst empfinde ein Jahr nach der Tat weiterhin Scham und Zorn.

BÜRGER »Es ist wichtig, dass wir hier sind, dass wir der Opfer gedenken, dass wir uns erinnern und zeigen, die Menschen haben nicht mit dem Thema abgeschlossen«, sagt ein Sozialarbeiter, der mit Schülern aus dem Heimatlandkreis des Attentäters nach Halle gekommen ist.

Der Schock sitzt nach einem Jahr noch tief in Halle und die Bekundungen, die Opfer nie zu vergessen, sind allgegenwärtig.

Eine Hallenserin erinnert sich mit Gänsehaut noch ganz genau, wie es damals war, als sie die unfassbaren Nachrichten gehört hat. »Meine Tochter hat mich angerufen und mich gewarnt, ich soll nicht rausgehen«, berichtet die Frau. »Da war ich aber schon mit dem Auto unterwegs, und bin an ganz viel Polizei vorbeigefahren, ich konnte das alles gar nicht fassen, was da passiert ist«, sagt sie und ringt nach Worten. Dann streckt sie den Rücken und sagt mit fester Stimme: »So etwas wie in Halle darf nie wieder geschen«.

Der Schock sitzt nach einem Jahr noch tief in Halle und die Bekundungen, die Opfer nie zu vergessen, sind allgegenwärtig. Dennoch müsse das Leben weiter gehen, sagt eine Frau auf dem Marktplatz. Und das tut es in Halle auch. An den Orten des Gedenkens herrscht in der Saalestadt an diesem Freitag andächtiges Schweigen. Von einem Stillstand der ganzen Stadt, wie er am 9. Oktober vor einem Jahr zu beobachten war, ist am ersten Jahrestag aber keine Spur.

Lesen Sie mehr über dieses Thema in unserer nächsten Printausgabe.

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