Sarrazin

Vorsicht, Fallstricke

Zungenfertig: Können Menschen mit Migrationshintergrund Deutsch sprechen? Sicherlich nicht alle, aber viele. Zum Beispiel Niedersachsens Integrationsministerin Aygül Özkan. Aber es dürfen ruhig noch mehr werden. (Plakat der Kampagne »Ich spreche Deutsch«) Foto: dsi

Man kennt es aus dem Fußball und den Western: Die Feinde meiner Feinde sind meine Freunde. Wenn Lokalrivalen aufeinandertreffen, verbünden sich ansonsten gegnerische Fangruppen, um den gemeinsamen Kontrahenten niederzu- schreien. Und wenn zwei einsame Kopfgeldjäger einem konkurrierenden Kollegen über den Weg laufen, braucht es kein Wort, um sich momentweise zu verbrüdern. Ein Drittes gibt es dann nicht, nur hopp oder topp. Sag’ mir, wo du stehst. Und ich sage dir, wer du für mich bist.

»Tertium non datur« ist auch ein philosophischer Grundsatz. Er besagt, dass eine vermittelnde Position unmöglich ist. Von zwei Aussagen kann dann nur eine wahr sein, kein Mittelweg lockt. Das Leben aber fügt sich selten nach diesem Prinzip. Wir gemischte Wesen stecken knietief in Zweideutigkeiten der prekärsten Art. Von der Illusion, wir seien von der Wiege bis zum Grab ein und derselbe, haben wir uns verabschiedet. Der Mensch des 21. Jahrhunderts begreift sich als sein eigenes Projekt, das ewig unvollendet nach Tages- und Kassenlage diese oder jene Form einnimmt.

Standpunkt Gerade deshalb ist die bundesdeutsche Gesellschaft so schnell erregt und ebenso schnell wieder abgekühlt. Von Zeit zu Zeit braucht es eine allgemeine Erhitzung, um in die Wonnen des Fraglosen einzutauchen. Dann scheint es für eine Weile, als ließe sich, entgegen fast aller sonstigen Wahrnehmung, der eine, richtige Standpunkt einnehmen. Dann wird aus dem Projektemacher ein Zensor. Einen solchen Augenblick liefert die Sarrazin-Debatte. In ihr wird kein Pardon gegeben, ist man entweder Sarrazin-Jünger und damit Biologist, Islamkritiker, vielleicht gar Rassist. Oder aber Sarrazin-Kritiker und damit Gutmensch, Naivling, Multi-Kulti-Träumer.

Die Diskussion hält aber mehr Fallstricke bereit, als die Sehnsucht nach Eindeutigkeit und Klarheit es sich träumen lässt. Keineswegs nämlich sind hier mit der Freund-Feind-Schere die Fraktionen trennscharf zu scheiden. Der vorherrschende Eindruck, man habe sich ein für alle Mal zu positionieren, man könne nicht Sarrazin kritisieren, ohne zugleich die Realität zu verleugnen, man könne ihn umgekehrt nicht loben, ohne sich mit politischen Rabauken gemeinzumachen – dieser Eindruck trügt.

Augenblicksbeschäftigung Das Knäuel namens Sarrazin lässt sich auf ganz verschiedene Weise entwirren. Man kann die Debatte deuten als erfrischenden Zwischenruf, als Rückkehr zur Wirklichkeit oder als Rückfall ins Ressentiment. Jede einzelne dieser hoch emotional aufgeladenen Deutungen will der jeweils anderen den Tod bereiten. Diesen Anspruch gilt es abzuwehren, soll das Ganze mehr sein als eine Augenblicksbeschäftigung. Echte Debatten erkennt man schließlich genau daran: dass Argumente gewogen werden, aufgenommen, zerteilt und neu zusammengefügt – unbeschadet ihres Absenders.

Aktuell gilt es, den vielen Fallstricken auszuweichen, die am Wegesrand lauern. Es müsste möglich sein, Probleme bei der Integration anzusprechen – zum Beispiel den Antisemitismus einer stabilen muslimischen Minderheit –, ohne gleich zum Sarrazianer gestempelt zu werden. Es müsste genauso möglich sein, manche argumentative Schlichtheit, manche verbale Entgleisung wie auch den generell islamkritischen Gestus für sich abzulehnen, ohne sofort des Schwärmertums geziehen zu werden. So sollte es sein, so ist es aber nicht. Noch immer verläuft das öffentliche Reden nach dem Muster eines Fußballspiels, in dem kein Remis vorgesehen ist.

Debattenorbit Deshalb tut nun eines vor allem not: Der bisher verriegelte Raum für eine vermittelnde Position muss geöffnet werden. Es muss ein Drittes wieder denkbar sein. Befürworter wie Kritiker eines vermutlich eher irgendwie vernommenen denn wirklich gelesenen Buches müssen sich die erste Reaktion verkneifen, dürfen nicht jede Äußerung sofort der einen oder anderen Gruppierung zurechnen und so jedes Gespräch verhindern. Es muss möglich sein, einen Schritt zurückzugehen – von der Provokation zur Argumentation, von der Polemik zum Diskurs. Ein solcher Schritt läge auch in der Natur der Sache begründet, die zu wichtig ist für das republikanische Zusammenleben, um sie nach dem von Sarrazin gezündeten Knall in den Debattenorbit entschwinden zu lassen.

Das Leben ist kein Fußballspiel. Wir sind nicht Teil eines Westerns. Die Colts sollten weggelegt werden, das Beschimpfen und Rechthaben – in welche Richtung auch immer – muss aus der öffentlichen Rede über den Islam verschwinden. Die Dramatik erwächst aus den Fakten. Stetig zugespitzter Dramatisierungen bedarf es da nicht.

Der Autor ist Kulturjournalist. Zuletzt erschien von ihm: »Dummgeglotzt. Wie uns das Fernsehen verblödet« (Gütersloher Verlagshaus)

Jom Hasikaron

Israel gedenkt der Terroropfer und Kriegstoten

Seit dem 7. Oktober 2023 sind 850 israelische Soldaten und 82 Sicherheitskräfte getötet worden

 30.04.2025

Josef Schuster

»Was bedeutet die Schoa heute noch für Deutschland?«

In seiner Rede zum 80. Jahrestag der Befreiung des KZ Bergen-Belsen reflektiert der Zentralratspräsident die Herausforderungen und Gefahren, vor denen die Erinnerung an die Schoa heute steht. Eine Dokumentation

von Josef Schuster  29.04.2025

Mauthausen

Überlebenswunderkind Eva Clarke: Geburt im KZ vor 80 Jahren

Es war eines der größten und gefürchtetsten Konzentrationslager der Nazizeit. Im Mai 1945 wurde es von US-Soldaten befreit. Unter den Überlebenden waren eine Mutter und ihr Neugeborenes

von Albert Otti  29.04.2025

Umfrage

Mehrheit hält AfD wegen deutscher Geschichte für unwählbar

Zum 80. Jahrestag des Kriegsendes fragt die »Memo«-Studie Menschen in Deutschland nach dem Blick zurück

 29.04.2025

Potsdam

Brandenburgs CDU-Chef Redmann fordert besseren Schutz für Synagoge

Vermutlich wurde in Halle ein zweiter Anschlag auf die Synagoge verhindert. Brandenburgs CDU-Chef Redmann fordert deshalb dazu auf, auch die Potsdamer Synagoge besser zu schützen

 29.04.2025

Menschenrechte

Immer schriller: Amnesty zeigt erneut mit dem Finger auf Israel

Im neuesten Jahresbericht der Menschenrechtsorganisation wirft sie Israel vor, einen »live übertragenen Völkermord« zu begehen

von Michael Thaidigsmann  29.04.2025

Berlin

Streit um geforderte Yad-Vashem-Straße

Zwischen dem Freundeskreis Yad Vashem und dem Roten Rathaus herrscht Unmut

von Imanuel Marcus  29.04.2025

Den Haag

Strafgerichtshof verpflichtet Chefankläger zur Vertraulichkeit

Karim Khan, der unter anderem gegen Benjamin Netanjahu einen Haftbefehl erwirkt hat, darf einem Bericht des »Guardian« zufolge künftig nicht mehr öffentlich dazu Stellung nehmen

 29.04.2025

Urteil

»Impfen macht frei«-Bild ist Volksverhetzung

Ein 65-Jähriger hatte während der Corona-Pandemie die Schutzmaßnahmen der Regierung mit dem Holocaust verglichen

 29.04.2025