Am Mittwoch verschickte die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas ein Statement. »Die Militäroperation Israels im Gazastreifen, die unverhältnismäßige Anwendung von Gewalt und der Tod von Zivilisten können nicht toleriert werden«, heißt es dort. Waren ihre Erklärungen zu diesem Thema bislang eher austariert, erwähnte Kallas dieses Mal die Hamas mit keinem Wort. Auch das war eine Botschaft.
Stattdessen fokussierte sie ihre Kritik auf Israels Weigerung, bei der Versorgung der Bevölkerung in Gaza mit den Vereinten Nationen zusammenzuarbeiten. Und Kallas verurteilte erneut »nachdrücklich die anhaltende Gewalt durch Siedler im besetzten Westjordanland«. Durch »Einschüchterungskampagnen, körperliche und verbale Angriffe sowie die Zerstörung und das Abbrennen von Eigentum und Häusern« komme es dort »zur Vertreibung ganzer palästinensischer Gemeinden«, erklärte die Außenbeauftragte.
Gaza-Debatte im Europaparlament
Von der früheren estnischen Ministerpräsidentin Kallas (sie gehört der liberalen Parteienfamilie an) hatte man etwas anderen »Sound« erwartet. Anders als ihr Vorgänger, der Spanier Josep Borrell, hielt sie sich beim Thema Nahost bislang eher zurück und versuchte, ausgewogener zu sein. Damit scheint es nun vorbei zu sein. In den EU-Institutionen steigt die Wut auf die Netanjahu-Regierung und das Gefühl, angesichts der Vorgänge in Gaza nur ohnmächtiger Zaungast zu sein.

Vergangene Woche debattierte auch das Europaparlament die Lage im Gazastreifen. Auch dort stand Netanjahu im Mittelpunkt harter Kritik. Fast jeder Redner führte den Namen des israelischen Regierungschefs im Munde. Freunde hat Netanjahu in Brüssel kaum, das war auch schon vorher so. Jetzt hat er – von den Rechtsaußenfraktionen abgesehen – nur noch entschiedene Gegner.
Von der größten Fraktion, der der Europäischen Volkspartei, nahmen nur wenige Abgeordnete an der Debatte teil. Einige, wie der Abgeordnete Michael Gahler, traten ans Rednerpult, um ausdrücklich zu betonen, dass die Freundschaft mit Israel nicht der Regierung Netanjahu gelte. »Vom demokratischen Israel einzufordern, das humanitäre Völkerrecht zu respektieren, macht niemanden zum Antisemiten«, sagte er.
Die deutsche Grüne Hannah Neumann verlangte die Aussetzung der Beteiligung Israels an einigen EU-Förderprogrammen: »Netanjahus Krieg hat längst die Grenzen der Selbstverteidigung überschritten. Aber wir liefern immer noch Waffen, auch solche, die in Gaza verwendet werden«, so Neumann. Der irische Liberale Barry Andrews warf der israelischen Armee »eine Kampagne der Barbarei« vor. Seine Landsfrau Lynn Boylan von der linken Sinn Féin »entschuldigte« sich bei den Kindern Gazas mit den Worten: »Es tut mir leid, dass ihr hungern müsst, während einige Kilometer weiter die Zionisten in feinen Restaurants speisen.«
Die CDU-Abgeordnete Hildegard Bentele, seit kurzem Vorsitzende der Delegation des Parlaments für die Beziehungen zu Israel, sprach sich hingegen für Dialog und Kooperation mit Israel aus. Es war keine populäre Botschaft an diesem Tag. Bentele bekam weit weniger Applaus als kurz zuvor die slowenische Staatspräsidentin, Nataša Pirc Musa.
»Ich wage es heute im Europäischen Parlament auszusprechen: Wir sind Zeugen eines Völkermords im Westjordanland. Wir schauen zu und schweigen.« Später stellte Pirc Musa zwar klar, dass sie Gaza gemeint habe, nicht das Westjordanland. Doch auch das zeigt, wie sehr der Rest an Verständnis für Israels Position nach dem 7. Oktober Wut auf die Regierung gewichen ist.
Auch in Berlin hat sich der Wind gedreht. Beim WDR-Europaforum in Berlin betonte Bundeskanzler Friedrich Merz zwar, gerade Deutschland müsse sich mit öffentlichen Ratschlägen an Israel »so weit zurückhalten wie kein zweites Land auf der Welt«. Er verstehe aber nicht, so Merz, mit welchem Ziel und mit welchen Methoden Israel in Gaza Krieg führe. »Wenn Grenzen überschritten werden, wo einfach das humanitäre Völkerrecht jetzt wirklich verletzt wird, dann muss auch Deutschland, dann muss auch der deutsche Bundeskanzler dazu etwas sagen.«
Die israelische Regierung dürfe nichts tun, »was nun irgendwann ihre besten Freunde nicht mehr bereit sind, zu akzeptieren«. Seinem Amtskollegen Benjamin Netanjahu habe er, so Merz, in den letzten zwei Jahren schon mehrfach gesagt: »Übertreibt es nicht!« Aber das war hinter verschlossenen Türen.
Jetzt machte der CDU-Chef seinem Unmut, der auch den Unmut in der Bevölkerung widerspiegelt, über die israelische Regierung öffentlich und vernehmbar Luft. Laut neuesten Umfragen missbilligen 80 Prozent der Deutschen das Vorgehen Israels in Gaza. Auch hierzulande hat Netanjahu nur wenige Freunde.

Und um sicherzugehen, dass seine Botschaft auch verstanden wird, postete Merz auf den entsprechenden Clip auf seinen Social-Media-Accounts.
Im Wahlkampf hatten die Union und ihr Spitzenkandidat noch versucht, sich von Ampel abzugrenzen. Insbesondere in der Frage der Waffenlieferungen hatte Oppositionsführer Merz sich klar positioniert. In seiner neuen Rolle als Bundeskanzler klingt er längst nicht mehr so klar und eindeutig. Ob es dem Amt geschuldet ist oder dem wachsenden Unverständnis über Israels Vorgehen? Vermutlich beidem.
Wadephul lehnt »Zwangssolidarität« mit Israel ab
Auch Außenminister Johann Wadephul klang am Dienstag kaum anders als seine Vorgängerin Annalena Baerbock und hielt mit Kritik an der Netanjahu-Regierung nicht hinter dem Berg. »Ich glaube, diese Regierung muss ganz klar wissen, dass wir uns nicht instrumentalisieren lassen und dass auch unser hundertprozentiger Kampf gegen Antisemitismus und unsere vollständige Unterstützung für das Existenzrecht und die Sicherheit des Staates Israel nicht instrumentalisiert werden darf für die Auseinandersetzung, für die Kampfführung, die derzeit im Gazastreifen betrieben wird.«
Man lasse sich, so Wadephul weiter, »nicht unter Druck setzen und in eine Position bringen, dass wir zu einer Zwangssolidarität gezwungen werden. Die wird es in der Form nicht geben können«. Die kaum verhohlene Unterstellung des CDU-Politikers: Israels Regierung fordert von Deutschland Folgsamkeit ein. »Israel betreibt eine Doppelstrategie, die wir für falsch halten«, so Wadephul weiter. Einerseits blockiere es Hilfslieferungen, andererseits verdränge es durch seine Militäroperation die Bevölkerung in Gaza. »Die Situation ist in der Tat unerträglich. Das ist die klare Auffassung nicht nur der westlichen Öffentlichkeit, sondern auch der Bundesregierung.«
Vor wenigen Wochen erst hatte das politische Berlin gemeinsam mit Israel 60 Jahre diplomatische Beziehungen zwischen beiden Staaten gefeiert. Jetzt ertönen aus der deutschen Hauptstadt ganz andere, ungewohnte Töne. Die Zusammenarbeit mit der israelischen Regierung, sie ist nicht mehr so einfach wie vorher. Auch wenn Israels Botschafter in Berlin, Ron Prosor, nach dem Merz’schen Diktum im ZDF-Morgenmagazin versicherte, man nehme die Kritik ernst, weil sie im Falle des Bundeskanzlers von einem echten Freund des jüdischen Staates komme.
Inwieweit die veränderte Rhetorik auch zu praktischen Konsequenzen führen wird, ist noch nicht klar. Merz hatte zuletzt angekündigt, Deutschland wolle in Europa wieder eine Führungsrolle übernehmen. Beim Thema Israel ist das eher unwahrscheinlich. Schon jetzt ist die deutsche Haltung eine Minderheitenposition unter den 27 EU-Mitgliedsstaaten. So viel Verständnis wie Berlin bringen die meisten europäischen Regierungen für Israels Nöte nicht auf.
17 von ihnen hatten sich vergangene Woche im Außenministerrat auf Initiative der eher rechtsgerichteten niederländischen Regierung dafür ausgesprochen, eine Aussetzung des Assoziierungsabkommens der mit Israel von der EU-Kommission überprüfen zu lassen. Deren Präsidentin, die Deutsche Ursula von der Leyen, gilt innerhalb der EU-Behörde als pro-israelisch. Doch auch von der Leyens Kritik an Israel wird immer schärfer.
Am Dienstag verurteilte die CDU-Politikerin nach einem Telefonat mit Jordaniens König Abdullah II. die israelischen Angriffe auf eine Schule im Gazastreifen als »abscheulich«. Auf keine Gegenliebe stößt in Brüssel auch die von Israel erzwungene Neuordnung der Hilfslieferungen nach Gaza unter Ausschluss der Vereinten Nationen.
Für die komplette Suspendierung der Zusammenarbeit der EU mit dem jüdischen Staat wäre allerdings ein einstimmiger Beschluss aller EU-Staaten nötig. Israels Mitwirkung an einzelnen Brüsseler Programmen könnte hingegen auch per Mehrheitsbeschluss ausgesetzt werden, Deutschland könnte überstimmt werden. Ob es so weit kommt, ist noch völlig unklar. Einige Staaten stellen sich quer. Ausgeschlossen erscheint es aber nicht mehr. Das hängt auch sehr davon ab, wie es in Gaza weitergeht.
Es wirkt wie ein Paradoxon: 600 Tage nach den Massakern der Hamas scheint Europa sich doch noch auf eine gemeinsame Haltung verständigen zu können. Und die lautet: Israel ist zu weit gegangen und muss gestoppt werden. Zur Not auch mit Sanktionen.