Budapest

Ungarn will Internationalen Strafgerichtshof verlassen

Kanzleramtsminister Gergely Gulyas Foto: picture alliance / Georges Schneider / photonews.at

Ungarn will aus dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) austreten. Das kündigte der ungarische Kanzleramtsminister Gergely Gulyas gegenüber der staatlichen Nachrichtenagentur MTI an. Die Ankündigung erfolgte kurz nach der Ankunft des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu in Ungarn.

Wie Gulyas weiter sagte, wolle Ungarns Regierung das Austrittsverfahren noch am Donnerstag in Gang setzen. Das Land verfahre entsprechend seiner eigenen Verfassung und internationalem Recht, fügte er hinzu. Der Grundlagenvertrag des IStGH sieht vor, dass ein Austritt ein Jahr nach der schriftlichen Kündigung in Kraft tritt. Das Gericht reagierte nicht direkt auf die Ankündigung.

Dass sich Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban den Vorgaben für ein Mitglied des IStGH nicht verpflichtet fühlt, hatte er bereits deutlich gemacht, nachdem im November der internationale Haftbefehl gegen Netanjahu wegen angeblicher Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Gaza-Krieg erlassen wurde. Orban sprach im Anschluss demonstrativ eine Einladung an seinen Verbündeten Netanjahu aus.

Römisches Statut

Laut Kritikern bestehen mit dem Haftbefehl einige Probleme: Netanjahu ist demokratisch gewählter Regierungschef eines Staates mit einem funktionierenden Rechtssystem. In Fällen wie diesem ist der IStGH nach Ansicht von Juristen gar nicht zuständig.

Außerdem geht Israel in Gaza gegen eine Terrororganisation vor, die den jüdischen Staat vernichten will, nicht aber gegen die dortigen Zivilisten. Dies zeigt sich auch dadurch, dass Israel die Bewohner vor anstehenden Angriffen gegen den Terror warnt und ihnen die Gelegenheit zur Flucht auf eigens eingerichteten Routen gibt. Auch sorgte Israel seit Kriegsbeginn für die Einfuhr von 1,3 Millionen Hilfsgütern für Gaza.

Ungarn müsste Netanjahu nach Ansicht von Befürwortern des Haftbefehls dennoch festnehmen lassen. Der Grundlagenvertrag, das sogenannte Römische Statut, verpflichtet die Mitgliedstaaten ihrer Ansicht nach, Anordnungen des Gerichts auszuführen. Sie müssen Haftbefehle vollstrecken, wenn sich ein Gesuchter auf ihrem Hoheitsgebiet befindet.

Einladung nach Deutschland

Im Umgang mit dem Staatsgast Netanjahu ist Ungarn aber kein Einzelfall. Auch Frankreich, Italien und Polen hatten bereits durchblicken lassen, dass sie den Haftbefehl nicht vollstrecken würden. Auch Friedrich Merz, der wohl künftige Bundeskanzler, hatte angekündigt, Netanjahu nach Deutschland einladen zu wollen. Er werde Wege finden, dass dieser nicht festgenommen werden müsse.

Der IStGH mit Sitz in Den Haag soll Verdächtige wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord und Aggressions-Krieg verfolgen. Dazu gehören gerade auch politisch und militärisch Verantwortliche. Auch Staats- und Regierungschefs können sich nicht auf eine Immunität berufen. Der IStGH ist kein Gericht der Vereinten Nationen.

Ungarn ist das erste europäische Land, das das Weltstrafgericht verlassen will. Bisher sind nur die Philippinen und das afrikanische Burundi aus dem IStGH ausgetreten. Die USA sanktionieren den Gerichtshof.

Lesen Sie auch

Verpflichtungen bleiben bestehen

Mit einem Austritt macht sich Ungarn nicht frei von der Pflicht, den Haftbefehl gegen Netanjahu zu vollstrecken. Ein Austritt aus dem Grundlagenvertrag des Gerichts tritt erst ein Jahr nach Eingang der schriftlichen Austrittserklärung in Kraft.

Aber auch danach bleiben die Verpflichtungen bestehen, die ein Vertragsstaat während seiner Mitgliedschaft übernommen hatte. Also auch Ungarn muss demnach weiter bei Ermittlungen mit dem Gericht zusammenarbeiten, wenn diese vor dem Austritt begonnen hatten.

Der Internationale Strafgerichtshof erinnerte Ungarn an seine Verpflichtung. Allerdings sind die Konsequenzen für Ungarn voraussichtlich überschaubar: Wenn ein Staat seiner vertraglichen Verpflichtung nicht nachkommt, dann kann das Gericht den Fall zwar der Vertragsstaatenkonferenz vorlegen. Und diese kann dann über weitere Maßnahmen gegen diesen Staat entscheiden. Große Folgen aber wird das kaum haben.

Rückreise am Sonntag

Für das Gericht steht dagegen einiges auf dem Spiel: Wenn seine Anordnungen missachtet werden, untergräbt das die Autorität des Gerichts.

Ungarns Austrittsankündigung erfolgte nur wenige Stunden, nachdem Israels Regierungschef Netanjahu zu einem mehrtägigen Besuch in Budapest eingetroffen war. Seine Ankunft bestätigte der ungarische Verteidigungsminister Kristof Szalay-Bobrovniczky, der ihn am Flughafen empfing.

Es ist die erste Reise Netanjahus nach Europa, seit der IStGH im vergangenen November den umstrittenen Haftbefehl gegen ihn verhängt hat. Seine Rückreise ist am Sonntag vorgesehen.

Mit allen Ehren

Orban empfing Netanjahu heute mit allen Ehren in der ungarischen Hauptstadt, berichtete das staatliche Fernsehen MTV. Der israelische Gast wollte auch den ungarischen Staatspräsidenten Tamas Sulyok treffen. Einzelheiten zu dem Besuch wurden – entgegen den Gepflogenheiten – vorher nicht bekanntgegeben. Auch auf Anfrage äußerte sich das Pressebüro des ungarischen Ministerpräsidenten nicht dazu. Der heikle Charakter des Besuchs liegt auf der Hand.

Orban unterstützt die Vorgangsweise der Regierung Netanjahus im Gaza-Krieg. Israel begrüßte umgehend die Ankündigung Ungarns, aus dem IStGH austreten zu wollen. »Der sogenannte Internationale Strafgerichtshof hat seine moralische Autorität verloren, seitdem er in seinem energischen Bestreben, Israels Recht auf Selbstverteidigung zu schädigen, internationales Recht mit Füßen tritt«, schrieb Außenminister Gideon Sa’ar auf X. dpa/ja

Israel

Antisemitismus-Beauftragter wirft Sophie von der Tann Verharmlosung der Hamas-Massaker vor

Die ARD-Journalistin soll in einem Hintergrundgespräch gesagt haben, dass die Massaker vom 7. Oktober eine »Vorgeschichte« habe, die bis zum Zerfall des Osmanischen Reiches zurückreiche

 25.11.2025

Interview

»Weder die Verwaltung noch die Politik stehen an meiner Seite«

Stefan Hensel hat seinen Rücktritt als Antisemitismusbeauftragter Hamburgs angekündigt. Ein Gespräch über die Folgen des 7. Oktober, den Kampf gegen Windmühlen und kleine Gesten der Solidarität

von Joshua Schultheis  25.11.2025

Ramallah

Nach Hammer-Angriff auf Israeli - mutmaßlicher Täter getötet

Vor mehr als einem Jahr kam ein israelischer Wachmann im Westjordanland bei einem Angriff ums Leben. Seitdem haben israelische Sicherheitskräfte nach dem flüchtigen Täter gesucht

 25.11.2025

Orange Day

Palina Rojinski spricht über Gewalt in früherer Beziehung

Wie viele Frauen hat auch die Moderatorin einst in einer Beziehung Gewalt durch ihren Partner erfahren. Darüber spricht sie nun auf Instagram. Sie will anderen Mut machen, sich Hilfe zu holen

 25.11.2025

Entscheidung

Berlin benennt Platz nach Margot Friedländer

Jahrzehntelang engagierte sich die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer für Aussöhnung. Nun erfährt die Berlinerin nach ihrem Tod eine besondere Ehrung

 25.11.2025

Hanau

Rabbiner antisemitisch beleidigt

Für die Gemeinde ist die Pöbel-Attacke kein Einzelfall

 25.11.2025

Berlin

RIAS: Polizei erfasst antisemitische Taten lückenhaft

Der Bundesverband sagt, es gebe strukturelle Probleme, Unsicherheiten im Umgang mit Betroffenen und ein insgesamt unzureichendes Bild antisemitischer Hasskriminalität in den offiziellen Statistiken

 25.11.2025

TV-Tipp

Ein äußerst untypischer Oligarch: Arte-Doku zeigt Lebensweg des Telegram-Gründers Pawel Durow

Der Dokumentarfilm »Telegram - Das dunkle Imperium von Pawel Durow« erzählt auf Arte und in der ARD-Mediathek die Geschichte der schwer fassbaren Messengerdienst-Plattform-Mischung und ihres Gründers Pawel Durow

von Christian Bartels  25.11.2025

Doppel-Interview

»Wir teilen einen gemeinsamen Wertekanon«

Vor 60 Jahren brachte das Konzilsdokument »Nostra aetate« eine positive Wende im christlich-jüdischen Dialog. Bischof Neymeyr und Rabbiner Soussan blicken auf erreichte Meilensteine, Symbolpolitik und Unüberwindbares

von Karin Wollschläger  25.11.2025