Fussball-EM

Toleranz gewinnt

Weltmeister Jérôme Boateng: hier bei der EM-Generalprobe am vergangenen Samstag gegen Ungarn Foto: dpa

Erst die Sache mit Jérôme Boateng: Die Leute fänden ihn als Fußballspieler gut, aber sie wollten einen Boateng nicht als Nachbarn haben. Mit diesen Worten hatte die »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung« den stellvertretenden AfD-Vorsitzenden Alexander Gauland zitiert. Dann folgte AfD-Vize Beatrix von Storch mit ihrem irritierenden Facebook-Post: Die Europaparlamentarierin unterstellte Bundeskanzlerin Merkel, dass sie die Fußball-EM abschaffen und künftig nur noch eine gemeinsame EU-Mannschaft antreten lassen wolle.

Schließlich kommt auch noch AfD-Chefin Frauke Petry um die Ecke, die die Aussagen kritisiert, die aber vielleicht auch so gar nicht gemeint waren. Geht’s noch? Dieses Spiel der Rechtspopulisten kennen wir: Provokation und Dementi. Sie achten genau darauf, dass sie nur das Porzellan zerschlagen, das sie auch wirklich zerdeppern möchten.

massenphänomen Unschön, aber wahr: Politik und Sport sind kaum zu trennen. Wenn wir anerkennen, dass Sport und vor allem Fußball ein gesellschaftliches Massenphänomen ist, das alle Schichten durchdringt, dann kann man auch kaum verlangen, dass sich die Politik da vollkommen heraushält. Es gehört eben auch dazu, dass sich die Kanzlerin gerne mal in der Kabine mit der Nationalmannschaft fotografieren lässt. Wenn es die Spieler nicht stört und sie das gut findet – dann soll’s mir recht sein. Aber wenn Rechtspopulisten den Fußball missbrauchen, ist das absolut unerträglich. Und kommt dabei auch noch blanker und unverhohlener Rassismus mit ins Spiel, krampft sich bei mir alles zusammen.

Damit ich nicht falsch verstanden werde: Ich habe nichts gegen eine natürliche Portion Nationalismus im Sport. Sich hinter einer Fahne und bei einer Hymne zu versammeln – warum nicht? Wenn es ein Fußballspiel ist und dieses auch nach Regeln verläuft, die wir als zivilisierte Menschen akzeptieren und das dann die einzige Form der Auseinandersetzung zwischen zwei Ländern bleibt – warum nicht?

Nur klar ist: Hass und Hetze haben im Fußball absolut nichts verloren. Und dass diese wunderbare Sportart immer wieder und immer häufiger dafür missbraucht wird, ist ein Skandal. Immer wieder Fußball! Daran wird gezerrt wie noch nie.

holocaust Mein Vater, der den Holocaust überlebt hat, hat mich, als ich fünf Jahre alt war, zum ersten Mal mit in ein Stadion genommen. Seitdem bin ich leidenschaftlicher Fußballfan. Mein Vater war Jude. Er hat Familienmitglieder im Holocaust verloren und entkam selbst nur knapp der Deportation. Anfang der 50er-Jahre floh meine Familie vor dem aufflammenden Antisemitismus in Polen nach Israel. Als ich acht Jahre alt war, zogen wir dann von Israel nach Kaiserslautern, wo ich auch mit dem Fußballspielen begann. Also glaube ich zu wissen, was Hass auf andere Menschen anrichten kann und was Ausgrenzung bedeutet.

Wenn ich höre, dass erst kürzlich, in einem Sonderzug, der BVB-Fans zum DFB-Pokalfinale am 21. Mai nach Berlin brachte, eine Hooligan-Gruppe das Wort »Jude« in Gesängen als Beleidigung anderer Fans nutzte, kriege ich zuviel. Die Dortmunder haben gleich gesagt, dass sie sich darum kümmern werden. Und gerade der BVB hat den Kampf gegen Antisemiten und andere Rassisten in den eigenen Reihen immer sehr gut hinbekommen.

Eine Gesellschaft muss sich selbst gegen solche Phänomene wehren, auch wenn es nur einzelne Verirrte sind. Es wird immer welche geben, die nicht bei Verstand sind. Man muss gegen sie vorgehen und dabei stets eines deutlich machen: Es darf keinen Platz für derartige Hetze geben. Weder in den Stadien noch außerhalb davon. Sport und Fußball sollten Brücken schlagen und Menschen zusammenbringen. Niemand darf wegen seiner Herkunft, Hautfarbe oder Religion ausgegrenzt werden.

hass Diese Überzeugung hat mir mein Vater zum Glück hinterlassen. Doch die Hoffnung, dass die gesamte Menschheit ein für alle Mal gut wird, die habe ich inzwischen doch nicht mehr. Hass und Rassismus werden nicht verschwinden.

»Es ist traurig, dass man da wieder etwas zurückgefallen ist. Ich hatte gehofft, das wäre überwunden«, sagte Jérôme Boateng, als Sohn einer deutschen Mutter und eines ghanaischen Vaters in Berlin geboren. Unterdessen hat er aber auch erklärt, er konzentriere sich nun auf die Fußball-Europameisterschaft in Frankreich. »Das Thema ist für mich jetzt gegessen«, machte er deutlich.

Lassen wir den Fußball zu seinem Recht kommen. Wir dürfen niemandem erlauben, uns die Freude am Spiel, diesem eskapistischen Vergnügen, einmal 90 Minuten aus dem uns alle stressenden Alltag zu entfliehen, zu nehmen. In diesem Sinne: Freuen wir uns doch einfach jetzt alle gemeinsam auf die EM, auf diesen wunderbaren Sport und viele spannende Begegnungen.

Der Autor ist Fußballkommentator und Fernsehjournalist. Er wird während der EM 2016 als Experte für SAT.1 berichten.

Akaba/Jerusalem

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