NSU-Prozess

Stochern im Netzwerk

Vor knapp einem Jahr hat der NSU-Prozess am Oberlandesgericht München begonnen. Das Verfahren gegen Beate Zschäpe und vier weitere Angeklagte soll deren strafrechtliche Schuld klären. Doch viele Angehörige der NSU-Opfer erwarten mehr. Der Widerspruch zwischen der Strafprozessordnung und dem Wunsch nach politischer Aufarbeitung bricht vor dem Oberlandesgericht München immer wieder auf.

So beispielsweise Mitte März, als Ismail Yozgat vor Gericht eine Erklärung verlesen will. Er ist der Vater des 2006 in Kassel erschossenen Halit Yozgat und rund 500 Kilometer zu dem Prozess gereist. Es war mutmaßlich der letzte Mord der Rechtsterroristen an einem Bürger mit Migrationshintergrund – später wurde die Polizistin Michèle Kiesewetter getötet.

Und es war der Mord, bei dem ein Mitarbeiter des Inlandsgeheimdienstes am Tatort in dem Internet-Café war. Der sich ahnungslos gebende Verfassungsschützer Andreas T. und der Mord in Kassel gelten vielen Beobachtern noch immer als ein möglicher Schlüssel für viele Rätsel im NSU-Komplex.

Yozgat beginnt seine Erklärung zu verlesen, er wendet sich an die Familien der Angeklagten, doch Richter Manfred Götzl unterbricht den Vater des Mordopfers nach wenigen Worten und will wissen, ob die Erklärung etwas mit der Befragung der Zeugen zu tun habe – also der Strafprozessordnung entspreche. Die Vertreter der Familie Yozgat entgegnen, für eine solche Erklärung müsse einfach Zeit sein vor Gericht. Zwei Tage später kann Ismail Yozgat seine Erklärung komplett verlesen – ob dafür tatsächlich Zeit sein müsse vor Gericht, bleibt umstritten.

rechtsstaat Viele Angehörige der NSU-Opfer hatten nach den Morden und nach den Verdächtigungen durch Polizei und Medien das Vertrauen in den deutschen Rechtsstaat verloren. Sie wollen vor Gericht herausfinden, wie ernst das Versprechen einer lückenlosen Aufklärung ist. Es war Angela Merkel, die vor gut zwei Jahren bei einer Trauerfeier verkündete: »Als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland verspreche ich Ihnen: Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen.« An diesem Versprechen wird nun das Gericht gemessen. Mit fortschreitender Dauer des Verfahrens driften jedoch Anspruch und Wirklichkeit immer weiter auseinander.

33 der 50 Opferanwälte erklärten in einem Offenen Brief, »die berechtigten Interessen der Angehörigen und Verletzten – vor allem das Interesse der Aufklärung – werden insbesondere vom Generalbundesanwalt längst als lästig hinten angestellt«. Zudem würden »notwendige politische und gesellschaftliche Diskussionen mit dem Bericht des NSU-Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages als weitgehend abgeschlossen erachtet«.

nebenkläger Die Vertreter der Nebenkläger wollen wissen: Wer war außerdem im Netzwerk des NSU aktiv? Welche Beziehungen gab es ins Ausland? Wer half vor Ort? Wie erfolgte die konkrete Opferauswahl? Wie finanzierte sich der NSU? Half ihm staatliches Geld? Wie viel und was wussten die Geheimdienste in den Jahren 1998 bis 2011? Haben V-Männer oder ihre V-Mann-Führer die Taten gefördert, ermöglicht, gedeckt? Die Bundesanwaltschaft entgegnet darauf, dass ein Strafprozess kein Untersuchungsausschuss sei.

Diese Einschätzung teilen auch Vertreter der Nebenklage, wie beispielsweise Angela Wierig. Die Hamburger Anwältin vertritt die Familie von Süleyman Tasköprü, der 2001 in der Hansestadt mutmaßlich vom NSU ermordet wurde.

Sie meint, viele Fragen zum NSU-Komplex, die wichtig und richtig seien, würden nicht in dem Strafverfahren zu klären sein; sie könnten den Prozess sprengen. Und gerade weil es in dem Verfahren so viele Emotionen gebe, müsse sich das Gericht strikt an die Strafprozessordnung halten. Wierig meint, Richter Götzl arbeite bislang sehr gewissenhaft. Sie ist zuversichtlich, dass sich die Schuld der Hauptangeklagten beweisen lasse. Das sei aber schon schwierig und umfangreich genug.

Gesellschaft Der NSU-Prozess wirft somit grundlegende Fragen der Rechtsphilosophie auf. Ist die Aufarbeitung des NSU-Komplexes nach einer möglichen Verurteilung von Beate Zschäpe etwa abgeschlossen? Welche Konsequenzen werden aus dem NSU-Skandal gezogen? Welche Bedeutung hat dieser Prozess für die Gesellschaft? Der berühmte hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer hatte einst gemahnt, dass Kenntnis der Fakten nicht genüge, »nötig ist auch der Versuch ihrer Deutung, ohne die keine Folgerung und keine Lehre gezogen werden können«.

Das Oberlandesgericht München scheint in die wenig komfortable Position geraten zu sein, eine solche für den NSU-Skandal vornehmen zu sollen. Der Anspruch lastet schwer auf dem Prozess.

München

»Wir verlieren die Hoheit über unsere Narrative«

Der Publizist und Psychologe Ahmad Mansour warnte in München vor Gefahren für die Demokratie - vor allem durch die sozialen Netzwerke

von Sabina Wolf  21.11.2025

Kommentar

Wenn Ideologen mehr zu wissen scheinen als Expertinnen

Der Antisemitismusbekämpfer und bisherige Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln, Martin Hikel, ist abgestraft worden - weil er die Grundwerte der sozialdemokratischen Partei vertreten hat

von Renée Röske  21.11.2025

Nazivergangenheit

Keine Ehrenmedaille für Rühmann und Riefenstahl

»NS-belastet« oder »NS-konform« – das trifft laut einer Studie auf 14 Persönlichkeiten der Filmbranche zu. Ihnen wird rückwirkend eine Auszeichnung aberkannt, die die Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (SPIO) zukünftig nicht mehr vergeben will

von Niklas Hesselmann  21.11.2025

Deutschland

»Hitler ist niedergekämpft worden. Unsere Städte mussten in Schutt und Asche gelegt werden, leider«

Militanter Linker, Turnschuhminister, Vizekanzler und Außenminister: Das sind die Stationen im Leben des Grünenpolitikers Joschka Fischer. Warum er heute vom CDU-Kanzler Konrad Adenauer ein anderes Bild als früher hat

von Barbara Just  21.11.2025

Berlin

Bundesinnenministerium wechselt Islamismusberater aus

Beraterkreis statt Task Force: Die schwarz-rote Bundesregierung setzt einen anderen Akzent gegen islamistischen Extremismus als die Ampel. Ein neues Expertengremium, zu dem auch Ahmad Mansour gehören wird, soll zunächst einen Aktionsplan erarbeiten

von Alexander Riedel  21.11.2025

TV-Kritik

Allzu glatt

»Denken ist gefährlich«, so heißt eine neue Doku über Hannah Arendt auf Deutsch. Aber Fernsehen, könnte man ergänzen, macht es bequem - zu bequem. Der Film erklärt mehr als dass er zu begeistern vermag

von Ulrich Kriest  21.11.2025

Glosse

Auf, auf zum bewaffneten Kampf!

Eine deutsche Komikerin wechselte am Wochenende wieder einmal das Genre. Enissa Amani versuchte allen Ernstes, rund 150 Berlinern zu erklären, dass Nelson Mandela das Vorgehen der Hamas gegen Israel gutgeheißen hätte

von Michael Thaidigsmann  21.11.2025 Aktualisiert

Vor 80 Jahren

Zentralrat der Juden: Nürnberger Prozesse waren Wendepunkt

Es waren hochrangige NS-Kriegsverbrecher, die vor 80 Jahren in Nürnberg vor Gericht standen. Was diese Prozesse aus Sicht des Zentralrats der Juden bedeuten - auch heute

von Leticia Witte  21.11.2025

Paris

EJC warnt vor wachsender Radikalisierung junger Menschen im Netz

»Hass ist viral gegangen«, sagt Moshe Kantor, der Präsident der Organisation

 21.11.2025