Rund 30 Schweizer Professorinnen und Professoren für Völker- und Völkerstrafrecht haben am Dienstag in einem offenen Brief dem Schweizer Bundesrat ihr Entsetzen über die nach ihren Worten »schweren Verstöße gegen das Völkerrecht durch die israelische Armee im besetzten palästinensischen Gebiet, insbesondere im Gazastreifen« geäußert.
Der Appell erfolgt anlässlich des 76. Jahrestags der Genfer Konventionen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zeigen sich besorgt über die »Passivität der Schweiz« und appellieren an die Verantwortung des Landes. Außerdem fordern sie, dass sich die Schweiz stärker für die Schaffung eines palästinensischen Staates einsetzt.
Am Dienstagabend dann die Erklärung von 20 Außenministern, darunter auch die Unterschrift von Ignazio Cassis, dem Schweizer Außenminister, dass dringende Maßnahmen erforderlich seien. Der Hunger in Gaza müsse gestoppt werden. Humanitäre Hilfe dürfe niemals politisiert werden und tödliche Gewalt nicht an Verteilstationen für Lebensmittel ausgeübt werden, heißt es in der Erklärung, die sich an die israelische Regierung richtet.
Zum zweiten Mal bereits unterzeichnet Cassis eine Erklärung. Zuvor forderte er am 21. Juli mit 28 seiner Amtskollegen das sofortige Kriegsende. Der Druck auf die Schweiz nimmt also zu, nachdem immer mehr Länder sich zur Anerkennung eines palästinensischen Staates verpflichten. Mehr als 145 Staaten schließen sich mittlerweile der Forderung nach internationaler Anerkennung an, zuletzt Frankreich und Großbritannien. Davor kündigten Australien, Portugal, Kanada und Malta kündigten Pläne an, die palästinensische Staatlichkeit anzuerkennen. Ist die Schweiz nun bald die nächste, die sich der internationalen Mehrheit anschließt?
Anerkennung als Symbolpolitik
Die Schweiz erkennt Palästina bisher nicht als souveränen Staat an, unterhält aber seit 1993 Beziehungen zur Palästinensischen Autonomiebehörde. Eine Anerkennung von Palästina als Staat durch die Schweiz wäre problematisch, nicht zuletzt auch deshalb, weil im Mai dieses Jahres das Hamas-Verbot in der Schweiz in Kraft trat. Zu diesem Verbot kam es hauptsächlich, weil die Hamas für das grausame Massaker vom 7. Oktober 2023 verantwortlich ist. Die Schweiz hatte mit dem Verbot ein Zeichen gesetzt, dass die Schweiz terroristische Handlungen und Ideologien nicht toleriert.
Die Anerkennung hätte allerdings kontrafaktische Signalwirkung. Zum einen, weil es die Rolle der Schweiz als unabhängige, neutrale Vermittlerin gefährden würde. Die Schweiz wurde in Vergangenheit als neutrale Vermittlerin wahrgenommen und hat – vermutlich – großes Interesse daran, diesen Status Quo zu bewahren. Sollte sie einen unabhängigen Staat Palästina vorab anerkennen, wäre dies ein Kurswechsel für die Schweizer Außenpolitik.
Sich reiner Symbolpolitik zu bedienen, hilft kaum, am wenigsten dem palästinensischen Volk, und wäre keine realpolitische Maßnahme. Die humanitäre Katastrophe in Gaza wäre dadurch nicht aus der Welt geschafft. Im Gegenteil, die Hamas als politische Macht – eine Alternative konnte sich bisher nicht konstituieren, da die Palästinensische Autonomiebehörde die Hamas zwar hasst, aber selbst schwach ist, um zu interagieren – erhielte dadurch noch viel Legitimation, das eigene Volk zu unterdrücken.
Auswirklungen auf die Juden in der Schweiz
Zum anderen ist es nicht abgegriffen zu sagen, dass es für die Hamas tatsächlich ein Geschenk wäre, das sie mit einer Anerkennung Palästinas von der internationalen Staatengemeinschaft bekäme. Sie würde damit zumindest vorübergehend zu einem berechtigten Verhandlungspartner, was zynischer nicht sein könnte, nachdem die Terrororganisation am 7. Oktober das größte Massaker an jüdischen Menschen seit der Schoah verübt hatte.
Eine Anerkennung avant la lettre würde zudem den Weg zur Zweistaatenlösung erschweren, weil damit eine entsprechende unilaterale Entscheidung getroffen werden würde. Außerdem erfüllt Palästina noch nicht die völkerrechtlichen Anerkennungsbedingungen, die ein unabhängiger Staat braucht bzw. definiert: Staatsgewalt, Staatsgebiet und Staatsvolk. Nur letzteres wäre demnach bis anhin vorhanden, Staatsgebiet noch nicht ausdefiniert und konfliktbelastet, da mit der Besetzung des Westjordanlands noch keine Lösung auf dem Tisch ist.
Ganz konkret würde die Anerkennung Palästinas auch eine Veränderung der außenpolitischen Haltung der Schweiz bedeuten, was Auswirkungen auf die jüdische Gemeinschaft in der Schweiz hätte. Die Schweiz ist bisher gut gefahren mit ihrer außenpolitischen Linie in Nahost in den letzten Jahren.
Fast zwei Jahre lang blieb sie sachlich und positionierte sich umsichtig. Das ist nicht zuletzt auch Außenminister Ignazio Cassis zu verdanken, was auch dazu geführt hat, dass die Situation, vor allem in der Deutschschweiz, wenn es um die Sicherheit der Jüdinnen und Juden ging, nach wie vor besser als in anderen Ländern ist, wo die Situation angespannter ist.
Falsche Druckwirkung
Die sofortige Anerkennung Palästinas benutzen die Staaten letztendlich, um Druck auf Israel auszuüben. Die Frage ist, ob dieser Druck auch tatsächlich etwas bringt. Die einzigen, die wirklich Druck auf die israelische Regierung ausüben können, sind die USA.
Der Wunsch nach längerfristigem Frieden und nach Beendigung der Militäroffensive wird auch in Israel immer lauter. Es ist verständlich, dass auch die internationale Staatengemeinschaft diesen Wunsch hegt. Doch eine Anerkennung kann erst in Erwägung gezogen werden, wenn ein ernsthafter Friedensprozess in Gang kommt. Eine Anerkennung zum jetzigen Zeitpunkt bedeutet kaum einen Schritt in Richtung Frieden. Es wäre lediglich das perverse Kalkül der Hamas, das damit aufginge.
dreyfus@juedische-allgemeine.de