Festhalle Frankfurt. Ein Star fährt vor. Aber im Auto sitzt »nur« meine Schwiegermutter. Sie wird bald 89 und hat etwas, worum sie Millionen Deutsche beneiden: einen Corona-Impftermin. Sie wird höflich empfangen, zuvorkommend befragt, betreut, beraten, beruhigt, begleitet und natürlich aufgeklärt. Insgesamt 28 Helfer kümmern sich an diesem Vormittag hingebungsvoll um jeden Einzelnen. Schließlich der Piks, kleine Ruhepause und dann: »Auf Wiedersehen – bis in sechs Wochen«.
Im Affentempo waren Impfzentren wie in der Festhalle hochgezimmert worden, aber als es losgehen sollte, fehlte es an Impfstoff. Das hatte viele Gründe und weckte Argwohn gegenüber den besser versorgten Ländern USA, Großbritannien und – Israel!
krisenmanagement Der Impfsprint im Heiligen Land nährte die Zweifel am heimischen Krisenmanagement. »So schnell wie Israel werden wir es nicht schaffen«, wiegelte der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Reiner Haseloff, schon im Januar vorsorglich ab und schob, bevor das »Warum?« in der Runde bei »Anne Will« zu laut wurde, nach: »Wir sind immer noch ein Rechtsstaat.« Stimmt. Genau wie Israel. Diese Entgegnung blieb leider aus.
Der Impfsprint im Heiligen Land nährte die Zweifel am heimischen Krisenmanagement.
Schon bald folgten die unvermeidlichen Verschwörungsfantasien. Irgendwie kann es doch nicht mit rechten Dingen zugegangen sein, wenn uns ausgerechnet der Judenstaat den in Deutschland entwickelten Impfstoff wegschnappt.
Dabei ist die Erklärung ganz simpel. Israel hat frühzeitig ohne Hintertürchen bestellt, mehr bezahlt und stellt dem Hersteller die (anonymisierten!) Impfdaten der eigenen Bevölkerung zur Auswertung zur Verfügung. Vor allem dieser Datendeal hat die Kühlschränke mit Impfstoff gefüllt. Leben retten oder Daten schützen? Den Luxus einer solchen Debatte leistet sich Israel nicht. Dort sind alle Krankendaten digital vernetzt, auch das macht das Impfen so rasant.
testlabor In Deutschland dagegen wurde endlos an einer Corona-App gebastelt, die am Ende zwar die Datenschützer glücklich macht, aber wenig nutzt. Unvorstellbar, dass Kanzlerin Merkel handeln könnte wie ihr israelischer Kollege: dringend benötigter Impfstoff gegen dringend benötigte Daten. Damit konnte Ministerpräsident Netanjahu sogar politisch punkten. Die Forscher weltweit, auch aus Deutschland und der EU, nutzen Israel jetzt als großes Testlabor.
Wir können von Israel viel lernen, aus den Erfolgen wie den Niederlagen.
Die Ergebnisse der gerade veröffentlichten Daten stimmen hoffnungsvoll.
Die Ergebnisse der gerade veröffentlichten Auswertung der Daten der israelischen Krankenkassen stimmen hoffnungsvoll. Danach wirkt das Pfizer-BioNTech-Vakzin tatsächlich sogar bei der britischen Mutation zu 95 Prozent, und es gibt deutliche Hinweise, dass Geimpfte das Virus nicht mehr übertragen.
herdenimmunität Aus dem Großlabor Israel kommen aber auch beunruhigende Nachrichten. Schon jetzt ist klar, dass durch die britische Variante die Herdenimmunität auf 80 Prozent steigen muss. Das wird selbst beim Impfweltmeister Israel noch lange nicht erreicht werden, denn das würde erstens voraussetzen, dass auch die große Mehrheit der über Zwölfjährigen zügig geimpft ist. Zweitens müssen dafür auch die Nachbarn geimpft werden, also auch die palästinensische Bevölkerung. Und drittens müsste dazu die Impfbereitschaft weiter steigen, insbesondere unter jungen Israelis, in der arabischen und in der charedischen Gemeinschaft.
Auch das lässt sich auf uns übertragen. Nationale Alleingänge sind auf Dauer kein Erfolgsrezept. Dafür ist unsere Welt zu vernetzt. Und Impf-skeptiker müssen überzeugt werden. Das wird wohl nur gelingen mit dem Anreiz von Erleichterungen für Geimpfte. Das aber hat unser Ethikrat gerade erst einmal abgeschmettert.
Wir werden mit diesem Virus noch so lange leben müssen, bis ihm irgendwann die Luft ausgeht.
Und damit sind wir bei den politischen Lehren aus der israelischen Entwicklung. Erstens: Der Kampf gegen das Virus kostet viel Zeit und Geld und Disziplin. Er mutet den Menschen mehr Opfer zu, als in demokratischen Gesellschaften ohne politischen und sozialen Flurschaden durchsetzbar ist. Und zweitens: Opportunismus der Regierenden kostet Glaubwürdigkeit und Leben. Verzweifelte Eltern betreuen ihre Kinder unter widrigsten Bedingungen zu Hause, und die Charedim setzen sich über alle Gesetze folgenlos hinweg und öffnen die orthodoxen Schulen?
faktenverweigerer 40 Prozent der Infizierten sind Charedim, obwohl sie nur zwölf Prozent der Bevölkerung ausmachen. Das mag allmählich auch ohne Impfung zu einer Herdenimmunität führen, ist aber kein Grund zur Entwarnung, denn die nimmt auch gegenüber wissenschaftlichen Argumenten zu. Und das wiederum ist kein Privileg orthodoxer Gemeinden. Auch hierzulande haben die Faktenverweigerer Zulauf. Auf den Straßen und in den Parallelwelten der Wut und des Hasses im Netz.
Bis 21. September, also bis zur Bundestagswahl, soll jeder in Deutschland ein erstes Impfangebot erhalten haben. Israel will sogar schon bis Mitte März die impfwillige Bevölkerung durchgeimpft haben. Rechtzeitig zu den Neuwahlen und zu Pessach. Aber selbst wenn das gelingen sollte, so die ernüchternde Erkenntnis israelischer Wissenschaftler, wird das nicht die Rückkehr zu unserem Leben bedeuten, wie wir es kannten, weil Mehrfachinfektionen möglich sind und weil wir mit weiteren Mutationen rechnen müssen.
Wir werden also mit diesem Virus noch so lange leben müssen, bis ihm irgendwann die Luft ausgeht. So lange werden zumindest Abstands- und Hygieneregeln bleiben. Die Ohnmacht aber gegenüber jenen, die den Rechtsstaat ignorieren, darf nicht zur neuen Normalität werden.
Der Autor ist Journalist in Frankfurt.