Leitartikel

So darf es nicht weitergehen

Zentralratspräsident Josef Schuster Foto: imago images / epd

Wir leben in einer Zeit der Zweifel. Jüdinnen und Juden zweifeln an unserer Gesellschaft. Sie zweifeln an der Fähigkeit der Gesellschaft, sich gegen ihre Feinde wehrhaft zu zeigen. Sie zweifeln daran, ob Deutschland bereit ist, jüdisches Leben zu schützen. Sie fragen sich, ob die Verantwortung aus der Schoa noch gilt – mit Blick auf die Erinnerungskultur in Deutschland, aber auch in Bezug auf das jüdische Leben in der Gegenwart.

Doch dieser Zweifel darf uns nicht lähmen; nicht als jüdische Gemeinschaft, nicht als Gesellschaft. Wenige Tage vor Chanukka orientieren wir uns an der Botschaft der Hoffnung, die dieses Fest ausstrahlt.

Ja, das jüdische Leben ist nach dem 7. Oktober 2023 in Deutschland mehr denn je seit der Schoa in Gefahr. Es hat sich eine Querfront von links bis rechts, von einem muslimisch-islamistischen Milieu bis in die Mitte der Gesellschaft gebildet, die die Selbstverständlichkeit jüdischen Lebens der Gegenwart sowie unserer Erinnerungskultur in Frage stellt. Dieses Land darf das nicht zulassen: Judenhass, Geschichtsvergessenheit und Israelfeindlichkeit dürfen niemals zur Normalität unserer Gesellschaft werden.

Politischer Umbruch nach dem Scheitern der Ampel

Die Politik, das heißt auf höchster Ebene die Bundesregierung sowie der Bundestag als gesetzgebende Versammlung, ist dabei in einer entscheidenden Rolle. Sie wird damit in einer Phase der Unklarheit konfrontiert. Wir stehen angesichts des Scheiterns der Ampel-Regierung und den Wahlen im Februar vor einem politischen Umbruch. Es wird die erste Regierungsbildung nach dem 7. Oktober 2023 und den verstörenden Bildern auch auf deutschen Straßen sein.

In diesem Umbruch liegt auch eine Chance. Eine Chance auf mehr Ehrlichkeit, auch wenn es um schwierige Politikfelder wie die Außen- oder Migrationspolitik geht. Es braucht konkrete Verbesserungen zum Schutz jüdischen Lebens. Dafür braucht es einen politischen Wandel.

Der Kampf gegen Antisemitismus fordert von uns, unbequemen Wahrheiten ins Auge zu blicken. Wir müssen unser Strafrecht gegen jede Form des Antisemitismus aufrüsten. Dies muss auch im digitalen Raum Anwendung finden. Plattformbetreiber müssen endlich stärker in die Verantwortung genommen werden.

Salafisten und Verschwörungsideologen unterminieren Widerstandsfähigkeit gegen Antisemitismus

Mühsame durch politische Bildung eingezogene Grenzen der Widerstandsfähigkeit gegen Antisemitismus werden in ungefilterten Talk-Formaten zwischen Salafisten und Verschwörungsideologen wieder getilgt. So darf es nicht weitergehen.

Der Volksverhetzungsparagraph 130 StGB muss konkretisiert und geschärft werden. Noch immer ist »antisemitisch« kein Kriterium für seine Anwendung. Wir müssen die Samthandschuhe ausziehen, wenn es um Antisemitismus im Kultur- und Wissenschaftsbereich geht. Ein Milieu aus Israelhassern und Antisemiten lacht sich ins Fäustchen, da sie es immer wieder schaffen, den öffentlichen Diskurs mit Falschbehauptungen zu fluten und Komplexe hervorzurufen, die einer klaren Haltung gegen Antisemitismus im Wege stehen.

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Mit der Bundestagsresolution »Jüdisches Leben schützen« wurde noch in dieser Legislaturperiode aus der Mitte des Bundestages heraus unter anderem dafür eine geeignete Entschließung verabschiedet. Nun wird es darum gehen, diesen Text mit Leben zu füllen und politisch umzusetzen. Ich bin mir bewusst, nicht alles kann und sollte verboten werden, doch was wären wir für ein Staat, was wären wir für eine Gesellschaft, wenn wir es zulassen, dass antisemitische Narrative mit Steuergeldern gefördert werden?

Die bisher bekannten Wahlprogramme zeigen, dass zumindest einige Parteien verstanden haben, dass es mehr Klarheit und Haltung zum Schutz jüdischen Lebens braucht.

Ein wichtiger Pfeiler dieser Identität ist auch eine Verbindung zum Staat Israel

Jüdisches Leben schützen heißt zudem jüdisches Leben stärken: Die vor wenigen Tagen vom Zentralrat veröffentlichten Studie »Gemeindebarometer« zeigt, dass die Jüdinnen und Juden in Deutschland ungebrochen zu ihrer jüdischen Identität stehen. Ein wichtiger Pfeiler dieser Identität ist auch eine Verbindung zum Staat Israel. Ein zunehmend negatives Israel-Bild in der deutschen Öffentlichkeit und der offen ausgetragene Hass auf deutschen Straßen haben direkte Auswirkungen auf Jüdinnen und Juden in Deutschland.

Als Zentralrat fühlen wir uns daraus bestärkt, uns weiter konsequent gegen die Dämonisierung Israels einzusetzen. Dies muss auch für die deutsche Außenpolitik gelten. Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson und muss immer ein Leitfaden deutscher Außenpolitik sein. Niemals darf dies durch das Abstimmungsverhalten der Bundesregierung auf europäischer und internationaler Ebene in Frage stehen.

Keine klare Sprache gegen diese subtile Verwässerung der Erinnerung an die Schoa

Auch in den Wahlprogrammen fällt indes eine Leerstelle besonders auf, die mich bedrückt. Während die extreme Rechte und die extreme Linke die Singularität der Schoa und die daraus folgende Verantwortung entweder als »Schuldkult« oder als postkoloniale »German guilt« relativiert und teilweise ablehnt, findet die Politik keine klare Sprache gegen diese subtile Verwässerung der Erinnerung an die Schoa.

Wir sehen dies auch an aktuellen Diskussionen um die Fortschreibung des Gedenkstättenkonzepts des Bundes. KZ-Gedenkstätten müssen unbedingt finanziell abgesichert sein, denn sie nehmen dabei als authentische Orte der Erinnerung eine zentrale Rolle ein, die in der Zukunft eher wichtiger, als weniger wichtig, werden wird.

Es darf in der Frage der KZ-Gedenkstätten keinen Zweifel daran geben, wo die Priorität staatlichen Handelns liegt. Indem die Schoa-Erinnerung jedoch bewusst in ein Verhältnis zur – unbestritten notwendigen – Aufarbeitung deutscher Kolonialverbrechen gesetzt wird, geschieht genau dies. Das geschieht zudem ohne Grund und wirkt damit umso unverständlicher.

Es braucht eine Korrektur dieses Weges. Ich möchte glauben, dass eine neue Bundesregierung dazu die Kraft haben wird. Eines ist klar: Wir wollen nicht zweifeln. Wir wollen hoffen und wir wollen, dass aus dieser Hoffnung wieder eine Gewissheit wird.

Der Autor ist Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland.

Maria Ossowski

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