Dokumentation

»Scheuen wir Verantwortung nicht«

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (M.) und Elke Büdenbender beim Besuch der Dauerausstellung mit Matthias Haß vom Haus der Wannsee-Konferenz Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS

Matti Geschonnecks Film ist eine in vielen Passagen wortgetreue, vielleicht die genaueste Adaption des Protokolls der Wannsee-Konferenz. Was wir sehen und erleben, ist eine reibungslos funktionierende Verwaltungsmaschinerie, Ressortabstimmungen, Vorlagen und Abläufe, die sich – abgesehen vom Inhalt der Besprechung – in nichts von denen unterscheiden, die es auch heute noch in Ministerien und Behörden gibt.

Es ist das Gewöhnliche, das Vertraute, das uns anspringt, entsetzt und verunsichert. Was Geschonneck gelingt, ist eine Inszenierung der Banalität des Bösen.

momentaufnahme Die Wannsee-Konferenz ist eine historische Momentaufnahme, sie zeigt den administrativen Hintergrund des Holocaust. Der Historiker Peter Klein versteht sie als Warnung auch an unsere modernen arbeitsteiligen Gesellschaften, deren bürokratische und politische Strukturen nur so lange gegen ihren Missbrauch gefeit sind, solange eine stabile demokratische Verfassung zwischen einer ebenso stabilen Regierung und Verwaltung und dem ideologischen Abgrund steht.

Es ist das Gewöhnliche, das Vertraute, das uns anspringt, entsetzt und verunsichert.

Wo sich diese Abgründe auftaten, ist im Protokoll der Wannsee-Konferenz vor allem an der Sprache abzulesen. Sprache ist ein Mittel der Identifikation ebenso wie der Distanzierung. Man kann sich durch Worte mit einer Sache gemein machen oder von ihr abrücken. Im Protokoll der Wannsee-Konferenz geschieht noch etwas weit Radikaleres. Hier leugnet jedes Wort seine eigentliche Funktion. Es will nichts benennen oder bezeichnen. Es will Tatbestände verschleiern und Verantwortung in homöopathische Dosen auflösen.

SPIEGELFECHTEREI So wird aus der Besprechung (…) eine seltsame, mitunter groteske Spiegelfechterei. Wer sich hier zu Wort meldet, will sich hervortun. Er will seinen Wert, seine Bedeutung und die seiner Behörde für den nationalsozialistischen Staat mit eigenen Ideen und Vorstellungen geltend machen und voranbringen – und hält sich doch gleichzeitig mit Worten vom Leibe, worüber er spricht und woran er sich beteiligt.

Die Teilnehmer wussten ebenso gut, wie wir es heute wissen, was sie nicht aussprechen wollten: dass der Gegenstand ihrer Beratungen die »restlose Ausschaltung der europäischen Juden« war, wie Joseph Goebbels nach der Lektüre des Protokolls in seinem Tagebuch notierte, die bis ins Detail geplante Ermordung von elf Millionen Menschen; sie wussten, dass dieses Vorhaben lange schon beschlossen war und zum Zeitpunkt der Konferenz (…) bereits hunderttausendfach ins Werk gesetzt worden war.

Das Protokoll der Wannsee-Konferenz ist eine Tatwaffe. Die Schmauchspuren, die sie hinterließ, sind bis heute nachweisbar.

Wer ein modernes Staatswesen und seine Verwaltung als regulierende und ausgleichende Instanz für einen zivilisatorischen Fortschritt hält, muss feststellen, dass die 15 Seiten des »Ergebnisprotokolls« den in wohlgesetzte Worte gekleideten Rückfall eines Staates in die Barbarei belegen.

VERSCHLEIERUNG Es zeigt, wie Sprache selbst zu einem Mordwerkzeug wird. Sie dient gleichermaßen der Abstrahierung wie der Verschleierung des eigentlichen Vorhabens, damit der Völkermord, so beschreibt es Peter Klein richtig, »administrativ kommunizierbar« und damit »für die Verwaltung handhabbar wird«.

Sie ermöglichte es den vielen Namenlosen – vom Verwaltungsbeamten über Mitarbeiter in Reichskanzlei und Auswärtigem Amt, über den Polizisten bis zum Lokführer –, an der Deportation und Ermordung von Millionen Juden mitzutun, und entlastete zugleich ihr Gewissen. Sie machte aber auch Millionen Deutsche zu schweigenden Mitwissern. Das Protokoll der Wannsee-Konferenz ist eine Tatwaffe. Die Schmauchspuren, die sie hinterließ, sind bis heute nachweisbar.

Matti Geschonnecks Protagonisten agieren; nicht als Karikaturen von Nazi-Schergen, (…) sondern als das, was sie vor 1939 waren und immerhin zwei von ihnen auch nach 1945 blieben: Juristen und Verwaltungsbeamte. »Ich habe davon nichts gewusst« – wie oft wurde diese Antwort nach 1945 gegeben.

Die Banalität des Bösen ist die seelenlose Bürokratie einer Diktatur, die Herrschaft der Niemande.

Wer sich die Frage stellt, was für Menschen die 15 Männer der Konferenz waren, wird, nach dem Stand der Forschung, zu dem Schluss kommen: Männer, die im Staatsdienst Karriere gemacht hatten, ein repräsentativer Querschnitt der Verwaltungselite. Zehn waren Akademiker, neun hatten eine juristische oder staatswissenschaftliche Ausbildung. Acht waren promoviert. Ihr Selbstverständnis als Juristen vertrug sich problemlos mit dem nationalsozialistischen Rassegedanken. (…)

VERWALTUNGSELITEN Die Verwaltungseliten durchliefen nach 1945 die für Beruf und Fortkommen nötige Entnazifizierung oft folgenlos und schützten sich gegenseitig vor Strafverfolgung – das ist ein bedrückendes Kapitel der deutschen Rechts- und Verwaltungsgeschichte. So stehen heute hochbetagte Handlanger des Holocaust vor Gericht, während nicht wenige ihrer Vorgesetzten zeit ihres Lebens für ihre Taten nie zur Rechenschaft gezogen wurden.

Wie konnte die Mordmaschinerie des Nationalsozialismus so perfekt funktionieren? Und was bedeutet persönliche Verantwortung in einer Diktatur? Das war ein Lebensthema von Hannah Arendt. Sie zeigt, dass totalitäre Systeme nicht allein mit dem absolut Bösen paktieren (…), sondern dass in diesen Systemen so viele kleine Rädchen ineinandergreifen, bis die Verantwortung des Einzelnen unkenntlich geworden ist und kein Unrechtsbewusstsein mehr existiert.

Die Banalität des Bösen ist die seelenlose Bürokratie einer Diktatur, die Herrschaft der Niemande. Dass sich Gleiches nicht wiederholt, das ist die Absicht jeder Erinnerung an die Verbrechen des NS-Staates. In unserem demokratischen Staat trägt jeder Einzelne Verantwortung, auch Beamte und Beamtinnen in einer hierarchisch organisierten Verwaltung.

Seien wir keine Niemande. Scheuen wir Verantwortung nicht. Auch nicht die, Nein zu sagen, wo es Recht und Mitmenschlichkeit gebieten.

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