Vergangene Woche kritisierte Bundeskanzler Friedrich Merz scharf die israelische Militäroperation im Gazastreifen. In einem späteren Telefonat forderte er den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu auf, humanitäre Hilfe umgehend und in ausreichendem Umfang in den Gazastreifen zu lassen und diese der leidenden Zivilbevölkerung zukommen zu lassen. Außenminister Johann Wadephul deutete indes eine mögliche Überprüfung der deutschen Waffenexporte nach Israel an.
Die unverblümte und für viele Beobachter überraschende Kritik an der israelischen Politik führte zu Spannungen zwischen CDU und CSU. Auch wenn die israelische Regierung über die neuen Töne aus Berlin nicht erfreut war, reagierte sie bislang gelassen und besonnen – nicht zuletzt, weil Merz erneut betonte, dass die Sicherheit und das Existenzrecht Israels »Teil deutscher Staatsräson« seien.
In Deutschland wird derzeit intensiv über das Verhältnis zu Israel diskutiert. Steht damit eine Wende in der Geschichte der deutsch-israelischen Beziehungen bevor? Oder handelt es sich lediglich um rhetorische Gesten des Bundeskanzlers und seines Außenministers, mit denen sie ihre Israel scharf kritisierenden europäischen Partner – etwa Spanien oder Frankreich – besänftigen und zugleich auf die wachsende antiisraelische Stimmung in der Bundesrepublik reagieren wollen?
Das Narrativ stammt noch aus der Sowjetunion
Während diese brisanten Fragen sowohl in Deutschland als auch in Europa und Israel gestellt werden, scheinen die Äußerungen von Merz und Wadephul in Russland bewusst ignoriert zu werden. Die Lage in Deutschland wird von staatlich kontrollierten russischen Medien zwar aufmerksam beobachtet und in verschiedenen propagandistischen Kanälen für ein in- und ausländisches Publikum kommentiert, doch die jüngsten Debatten über Israel werden weitgehend ausgeblendet. Der Grund: Sie würden das in Russland verbreitete, plakative Bild der »bedingungslosen deutsch-israelischen Allianz« infrage stellen.
Diese überzogene Vorstellung wurde bereits im Zuge des Luxemburger Wiedergutmachungsabkommens von 1952 in der Sowjetunion konstruiert und in der DDR sowie weiteren Ostblockstaaten verbreitet. Dem jüdischen Staat wurde damals vorgeworfen, das Ansehen des »revanchistischen Bonner Reiches« reinzuwaschen. Die Bundesrepublik galt als Unterstützer Israels und damit als mitverantwortlich für die »israelischen Verbrechen« an Palästinensern und arabischen Staaten.
Der Kreml bedient gleichzeitig antiisraelische wie antisemitische Ressentiments in Deutschland und fördert eine antideutsche Stimmung im Ausland.
Auch nach dem Zusammenbruch des Kommunismus verschwand dieses Feindbild nicht – im Gegenteil: Seit dem Hamas-Überfall auf Israel im Oktober 2023 wird es in Russland systematisch gepflegt. Der Kreml kritisiert die israelische Militäroperation im Gazastreifen scharf. Vergleiche mit nationalsozialistischen Verbrechen – etwa mit der Blockade von Leningrad – machen die Runde und werden von Präsident Putin persönlich wiederholt. Die »brutale israelische Kriegsführung« wird der angeblich humanen russischen »Spezialoperation« in der Ukraine gegenübergestellt.
Und dann rückt Deutschland in den Fokus: ein Land, das sich ausschließlich für jüdische Opfer des Nationalsozialismus interessiere, nichtjüdische jedoch ignoriere; das den von dem »jüdischen Nazi« Wolodymyr Selenskyj geführten »ukrainischen Faschisten« beistehe und zugleich – getrieben von historischen Schuldgefühlen – die »Nazi-Methoden« seiner israelischen Partner dulde und unterstütze.
Mit der politischen Realität in Deutschland und dem nicht immer spannungsfreien deutsch-israelischen Verhältnis hat dieses alte, unter Putin neu belebte Feindbild wenig zu tun. Es ist jedoch aus Sicht des Kremls überaus nützlich: Indem es die Bundesrepublik zu einem »Knecht des Judenstaates« erklärt, bedient es gleichzeitig antiisraelische wie antisemitische Ressentiments in Deutschland und fördert eine antideutsche Stimmung im Ausland. In dieser propagandistischen Logik ist schlichtweg kein Raum für kritische Äußerungen der deutschen Führung zur israelischen Politik.