Streitgespräch

Rote Linien und Tabus

Bis hierhin und nicht weiter. Doch wo verläuft die Grenze zwischen legitimer Israelkritik und Antisemitismus? Foto: fotolia

Ines Pohl schaut ein wenig gestresst. »Frech?«, sagt die Chefredakteurin der taz, »ja: frech, so kann man das Motto des heutigen Abends schon verstehen.« Dann muss Pohl weiter, sich um ihre Gäste kümmern: Stephan J. Kramer, den Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland. Und um Micha Brumlik, Erziehungswissenschaftler, Jude, Linker und taz-Autor. Das freche Motto des Abends lautet: »Immer Ärger mit der taz«. Es geht um den journalistischen Umgang mit Israel. Dass man daraus eine kokette Andeutung herauslesen kann, hier würde das, was gerne »unbequeme Wahrheiten« genannt wird, verbreitet, stört Pohl nicht.

Weit über 100 Gäste haben sich am Donnerstagabend in Neukölln eingefunden, dem Berliner Bezirk, der meist nur mit dem vorangestellten Wort »Problem« verbunden wird. Menschen aus der Jüdischen Gemeinde sind gekommen, in Berlin lebende Palästinenser, israelische Friedensaktivisten, ihre deutschen Unterstützer und Linke, die sich – mitunter bedingungslos – an die Seite der jeweiligen israelischen Regierung stellen.

Suff und Sex »Kritik, Tabu und Antisemitismus im Umgang mit Israel«, lautet die Unterzeile des Themas, es soll also um Medien gehen. Genauer: um das linksliberale Medium »tageszeitung«. Ende April dieses Jahres hatte es wieder Ärger über die taz gegeben: Dort war ein mit »Pilgerfahrt nach Auschwitz« betitelter Gastbeitrag der Autorin Iris Hefets erschienen. Das Gedenken an die Schoa, schreibt das Vorstandsmitglied der Gruppe »Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden«, sei wie eine ritualisierte Religion: Jeder junge Israeli müsse »mindestens einmal Suff, Sex und eine « absolviert haben.

Hefets’ Text löste Empörung aus, und als die Jüdische Gemeinde zu Berlin einige Chefredakteure Berliner Tageszeitungen, darunter Ines Pohl, ins Centrum Judaicum einlud, um über die gängige Israel-Berichterstattung zu diskutieren, ließ es die taz-Chefin zum Eklat kommen: Weil Hefets nicht aufs Podium durfte, zog Pohl mit viel Tamtam und Gefolge wieder aus. Eine »rote Linie«, die die Grenze zwischen legitimer Kritik an Israel und antisemitischer Hetze markiere, sei überschritten worden, hieß es vielerorts. Die taz bestritt das.

Doch um den publizistischen Schaden, den Pohls Auftritt im Gebäude der Synagoge angerichtet hatte, zu beheben, ist man in die Offensive gegangen: Warum die damals vehement als Podiumsdiskutantin geforderte Hefets am Donnerstag nicht eingeladen war, wurde zwar mit keinem Wort begründet. Aber vielleicht war man ja innerhalb der taz zu der Einschätzung gekommen, eine »konstruktive Diskussion« (Pohl) sei eher ohne diese Stimme möglich.

Selbsthass »Wir sollten mit ›roten Linien’ vorsichtig sein«, sagte Stephan J. Kramer. Besser sei es, »Grenzen eher mal zu überschreiten, als Denkverbote auszusprechen«. Tabus und Verbote würden nie weiterhelfen, und eine entgleiste Diskussion ließe sich auch wieder einfangen. Micha Brumlik begründete, warum er Hefets’ Polemik falsch, aber nicht antisemitisch findet. »Ein Antisemit ist einer, der Juden hasst, sie ausgrenzen will, sie umbringen will«, sagt er. Das treffe auf Hefets definitiv nicht zu. Vielmehr würden in der innerisraelischen Debatte diese Thesen, die Brumlik im Übrigen falsch findet, auch vertreten – etwa von dem Historiker Moshe Zimmermann oder dem Soziologen Moshe Zuckermann.

Brumlik plädierte leidenschaftlich dafür, die Kriterien, ob ein Text oder sein Autor antisemitisch seien, genauer zu betrachten. »Es gibt Homosexuelle, die Schwule hassen, da gibt es natürlich auch Juden, die Juden hassen.« Ihn irritiere jedoch nachhaltig, wie selbstgefällig nichtjüdische Deutsche es fertigbrächten, Juden als Antisemiten zu beschimpfen. In geschätzten 90 Prozent stimme das harsche Urteil nicht.

Brumlik, der vieles an der israelischen Politik als »Verstoß gegen Menschen- und Völkerrechte« geißelte, rief nichtsdestotrotz dazu auf, die Situation des kleinen Landes fair zu betrachten: Dort herrsche wegen des iranischen Atomprogramms ein »Grundgefühl genozidaler Bedrohung«, das präge Denken und Handeln, und das müsse man sehr ernst nehmen. »Danach kann man immer noch Israel kritisieren.«

Suchmaske Wie schwierig das Abwägen fällt, wurde deutlich, als das Publikum in die Diskussion einbezogen wurde. Eine junge Israelin, die sich als Mitglied der KP vorstellte, beklagte, es sei unglaublich, dass man sie – »sogar hier in Deutschland« – als Antisemitin beschimpfe: Ihre Eltern und Großeltern hätten das Land aufgebaut, aber was jetzt passiere, »das ist kein Zionismus, das ist Mord««. Ein Palästinenser beklagte, die Frage sei nicht, wie weit Israelkritik gehen dürfe, sondern warum sie nicht weit genug ginge. Ein Deutscher berichtete von seiner Googlerecherche: Wer »Serbienkritik« oder »Luxemburgkritik« in die Suchmaske eingebe, stoße vielleicht auf eine Handvoll Treffer. Wer aber das Wort »Israelkritik« tippe, werde hunderttausendfach bedient.

Juliane Wetzel, Wissenschaftlerin am Zentrum für Antisemitismusstudien der TU Berlin, monierte, dass so viel über Israel und Palästina, kaum aber über Deutschland und die deutschen Medien geredet werde. Sie nannte als Beispiel die Fotoauswahl, bei der israelische Innenpolitik beinahe immer mit Bildern ultraorthodoxer Juden illustriert würde. Das zeige, wie weit Stereotype verbreitet sind. Und Andreas Zumach, taz-Korrespondent bei der UNO in Genf, wies Vorwürfe gegen sein Blatt generell zurück. In den vergangenen 22 Jahren, die er für die Zeitung arbeite, habe es keinen einzigen Fall von Antisemitismus gegeben. Eine These, die von Stephan J. Kramer als abwegig bezeichnet wurde. »Es fängt schon damit an, wenn von jüdischen statt von israelischen Siedlungen die Rede ist.« Oder wenn die Verhältnisse in Hebron und Gaza mit denen des Warschauer Ghettos verglichen würden. Oder wenn von einem »israelischen Vernichtungsfeldzug in Gaza« die Rede ist, so, als ob es sich bei Zahal um die Wehrmacht handelte.

Angebot Kramer versprach, Zumach Material zu den Entgleisungen auch seiner Zeitung zuzusenden. Und noch auf dem Podium verständigte sich der Generalsekretär des Zentralrats mit Ines Pohl, dass es bald eine Diskussion geben soll, auf der sich dann Iris Hefets mit ihm streiten wird. »Das war nicht abgesprochen«, freute sich Pohl nach der Veranstaltung. Denn was mit einer offenen Brüskierung der Jüdischen Gemeinde begonnen hatte, soll nun zum publizistischen Gewinn für das linksliberale Blatt werden. Frech kommt weiter.

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