75 Jahre Wannsee-Konferenz

Planung des Grauens

Haus der Wannsee-Konferenz in Berlin Foto: Gregor Zielke

Es ist kurz vor zwölf Uhr am 20. Januar 1942, als im Speisesaal des Gästehauses der ehemaligen Villa Marlier am Wannsee 15 Männer zusammenkommen. Das einstige Industriellendomizil am Rande Berlins nutzen mittlerweile die Sicherheitspolizei und der Sicherheitsdienst des NS-Staats. Der Gastgeber leitet das Treffen – Reinhard Heydrich, der Leiter des Reichssicherheitshauptamts (RSHA). Thema: die »Endlösung der Judenfrage«.

Seine Gäste sind nicht etwa hohe Nazis wie Göring, Goebbels oder Himmler, sondern Staatssekretäre und andere Behördenvertreter. Alle relevanten Stellen schicken jemanden an den Wannsee, darunter die Verwaltung des besetzten Polen, das Außen-, Innen- und das Justizministerium. Die Männer besprechen den Mord an Europas Juden.

holocaust Bis heute hält sich landläufig die Auffassung, wonach in der Villa am Wannsee vor 75 Jahren der Holocaust beschlossen worden sei. »Das steht sogar noch in vielen Schulbüchern«, sagt der Historiker Thomas Sandkühler von der Humboldt-Universität in Berlin. Doch als sich die 15 Männer in der Villa treffen, läuft der Massenmord an den Juden längst, haben Wehrmacht und Einsatzgruppen der SS im besetzten Europa schon mehr als eine halbe Million Juden erschossen.

Es ging bei der Konferenz um »die behördliche Abstimmung zur weiteren Planung eines bereits angelaufenen Völkermordes«, sagt der Leiter der Wannsee-Gedenkstätte, Hans-Christian Jasch. Damit wurde sie zum Symbol für die staatlich geplante und bürokratisch organisierte Ermordung der Juden Europas.

Einen Befehl Hitlers zum massenhaften Judenmord gibt es nicht schwarz auf weiß. »Hitler war keiner, der schriftlich Anweisungen gegeben hat«, erläutert der Stuttgarter Historiker Wolfram Pyta. »Seine Reden waren Anleitungen zum Handeln.«

Das entscheidende Datum war nach Pytas Worten der 12. Dezember 1941. Am Tag zuvor hatte Deutschland den USA den Krieg erklärt. Nun rief Hitler die Reichs- und Gauleiter zusammen. »Bezüglich der Judenfrage ist der Führer entschlossen, reinen Tisch zu machen«, schrieb Goebbels danach über das Treffen in sein Tagebuch.

»Weltkrieg und Holocaust sind nicht zu trennen«, sagt Pyta. »Der Krieg war die Voraussetzung für den massenhaften Judenmord, und zugleich war dieser von Anfang an Kriegsziel.«

initiative RSHA-Chef Heydrich, Bevollmächtigter für die »Gesamtlösung der Judenfrage im deutschen Einflussgebiet in Europa«, ergriff die Initiative und lud an den Wannsee zur Konferenz. Der Funktionär, der im Juni 1942 in Prag ermordet wurde, wollte den Massenmord an den Juden unter die Ägide der SS bringen.

Wie der SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, der bei der Sitzung das Protokoll führt, später berichtet, rechnete Heydrich mit Diskussionen. Allerdings ist unklar, ob er befürchtete, die anderen Männer würden dem Mordplan generell widersprechen oder ob er ein Kompetenzgerangel darüber erwartete, wer für das Töten zuständig sei. »Es ist aber wenig wahrscheinlich, dass er grundsätzlichen Widerspruch erwartet hat, weil das Töten ja längst begonnen hatte und jeder das wusste«, sagt Forscher Sandkühler.

Mit der Wannsee-Konferenz wird der bereits laufende Massenmord zu einem systematischen Genozid, der in der Geschichte ohne Beispiel ist. Im Protokoll findet sich eine Liste mit den europäischen Staaten und Zahlen zur jüdischen Bevölkerung, die aus diesen Staaten deportiert und ermordet werden sollten. »Es gibt wenige andere Dokumente, die die Mordabsichten und ihren Umfang so detailliert dokumentieren«, sagt Jasch.

protokoll Zwar steht im Protokoll nicht, wie genau das vonstattengehen soll. Die Teilnehmer diskutieren über Giftgas als Mordmethode, schreiben sie aber nicht fest. Das Treffen sei »noch kein Startsignal für die Vernichtungslager« gewesen, so Wissenschaftler Pyta, »aber ein erstes Angebot, was alles möglich wäre«.

»In großen Arbeitskolonnen, unter Trennung der Geschlechter, werden die arbeitsfähigen Juden straßenbauend in diese Gebiete geführt, wobei zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird«, ist im Protokoll zu lesen. »Der allfällig endlich verbleibende Restbestand wird, da es sich bei diesem zweifellos um den widerstandsfähigsten Teil handelt, entsprechend behandelt werden müssen.«

Im Protokoll ist von »Sonderbehandlung« oder »Endlösung« die Rede. Eichmann sagte später aus, in der Runde sei auch von »töten«, »eliminieren« und »vernichten« gesprochen worden, aber Heydrich habe ihn nach der Konferenz angewiesen, diese Worte aus dem Text zu streichen.

Die Konferenz am Wannsee dauert nur etwa anderthalb Stunden. Die Teilnehmer streiten nicht, diskutieren kaum. Sie sind sich einig, das Richtige und Notwendige zu tun. Nachdem sie festgelegt haben, wie der Holocaust abzulaufen habe, setzen sie sich zu Tisch.

Interview

»Diskrepanzen zwischen warmen Worten und konkreten Maßnahmen«

Nach dem Massaker von Sydney fragen sich nicht nur viele Juden: Wie kann es sein, dass es immer wieder zu Anschlägen kommt? Auch der Beauftragte der Bundesregierung gegen Antisemitismus, Felix Klein, sieht Defizite

von Leticia Witte  22.12.2025

Washington D.C.

Kritik an fehlenden Epstein-Dateien: Minister erklärt sich

Am Freitag begann das US-Justizministerium mit der Veröffentlichung von Epstein-Akten. Keine 24 Stunden später fehlen plötzlich mehrere Dateien - angeblich aus einem bestimmten Grund

von Khang Mischke  22.12.2025

Australien

Behörden entfernen Blumenmeer für die Opfer von Bondi Beach

Die Regierung von New South Wales erklärt, man habe sich vor dem Abtransport der Blumen eng mit der jüdischen Gemeinde abgestimmt

 22.12.2025

Sydney

Attentäter warfen Sprengsätze auf Teilnehmer der Chanukka-Feier

Die mutmaßlichen Attentäter Naveed und Sajid Akram bereiteten sich auf das Massaker vor. Ihre Bomben explodierten nicht

 22.12.2025

New York

Tucker Carlson ist »Antisemit des Jahres«

Die Organisation StopAntisemitism erklärt, ausschlaggebend seien Beiträge, in denen er erklärten Judenhassern, Holocaustleugnern und extremistischen Ideologen eine große Bühne geboten habe

 22.12.2025

In eigener Sache

Die Jüdische Allgemeine erhält den »Tacheles-Preis«

Werteinitiative: Die Zeitung steht für Klartext, ordnet ein, widerspricht und ist eine Quelle der Inspiration und des Mutes für die jüdische Gemeinschaft

 21.12.2025

Gaza

Das Problem mit der Entwaffnung

Die Hamas weigert sich strikt, die Waffen niederzulegen. Was Zustimmung in der palästinensischen Bevölkerung findet und den Friedensplan stocken lässt

 21.12.2025 Aktualisiert

Interview

»Die Zustände für Juden sind unhaltbar. Es braucht einen Aufstand der Anständigen«

Zentralratspräsident Josef Schuster über den islamistischen Anschlag von Sydney und das jüdische Leben in Deutschland nach dem 7. Oktober

 21.12.2025

Meinung

Es gibt kein Weihnukka!

Ja, Juden und Christen wollen und sollen einander nahe sein. Aber bitte ohne sich gegenseitig zu vereinnahmen

von Avitall Gerstetter  20.12.2025