Interview

»Nachhaltige Strategien erarbeiten«

Peter Longerich Foto: imago

Herr Longerich, Sie haben zusammen mit der Historikerin Juliane Wetzel den unabhängigen Expertenkreis bei der Erstellung des Antisemitismus-Reports koordiniert. Jetzt ist dieser Bericht vom Innenministerium über das Kabinett an den Auftraggeber, den Deutschen Bundestag, übergeben worden. Zu welchem Schluss sind Sie in dem Papier gekommen?
Der Auftrag lautete, das Ausmaß des Antisemitismus in Deutschland darzustellen und Maßnahmen zu seiner Bekämpfung zu evaluieren bzw. vorzuschlagen. Das Ziel ist, eine Gesamtschau des Problems Antisemitismus in der heutigen Gesellschaft darzustellen. Wir haben uns zunächst mit dem politischen Extremismus beschäftigt, in den drei einschlägigen Bereichen Rechtsextremismus, Linksextremismus und Islamismus. Der wichtigste politische Träger des Antisemitismus heute ist eindeutig der Rechtsextremismus. Weit über 90 Prozent aller antisemitischen Straftaten wurden 2010 von Rechtsextremen begangen. Auch im Linksextremismus gibt es Judenfeindlichkeit, das sollte man nicht bagatellisieren, aber doch in einem wesentlich geringeren Ausmass. Und dann existiert noch die große Unbekannte: Islamismus. Unbekannt deswegen, weil man die Ausbreitung dieses Gedankenguts nur schwer abschätzen kann. Dazu fehlen uns wesentliche Daten. Wir wissen, dass durch Fernsehsender und Publikationen betrieben wird, aber wir kennen deren Rezeption nicht. Und das ist ein großes Problem.

Was haben Sie noch untersucht?
Wir haben uns die einschlägigen Meinungsumfragen angesehen, um herausfinden, wo in der Gesellschaft Antisemitismus spürbar ist. Und dabei bestätigt sich eines immer wieder: Bei etwa 20 Prozent der Bevölkerung ist in irgendeiner Form einen latenter Antisemitismus vorhanden. Das ist eine ungefähre Größenordnung, die über die Jahre hinweg aber ziemlich konstant geblieben ist.

Sind 20 Prozent eine hohe Zahl?
Das Problem ist, dass neben diesen Befunden der Meinungsforschung eine Grauzone von Stereotypen, Unwissen und Klischees über Juden existiert. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich allerdings der Schwerpunkt in Richtung auf zwei Themen verlagert: Eine Art von gegen Juden gerichtete Schuldabwehr im Zusammenhang mit dem Holocaust sowie eine antisemitisch unterfütterten Israelkritik. Das Problem ist, dass das, was die Rechtsextremen propagieren, damit in einem größeren gesellschaftlichen Rahmen anschlussfähig ist. Momentan gibt es eine Art Tabuisierung des Antisemitismus. Wenn aber diese Schranke fällt, dann bietet sich ein großes Agitationsfeld an. Das ist das eigentlich Gefährliche. Im internationalen Rahmen liegt Deutschland eher im Mittelfeld. Das kann uns aber nicht beruhigen, denn gerade bei uns werden ja erhebliche Anstrengungen unternommen, Judenfeindlichkeit zu bekämpfen und einzudämmen.

Im Bericht wird kritisiert, dass es »eine umfassende Strategie zur Bekämpfung des Antisemitismus in Deutschland« nicht gäbe. Helfen die unzähligen Projekte an Schulen und in Freizeiteinrichtungen nicht gegen Judenfeindlichkeit?
Offensichtlich sind sie nicht ausreichend, denn einen harten Kern von Antisemiten, und darüber hinaus ein erhebliches Potenzial von Klischees und Stereotypen, gibt es nach wie vor. Wir haben uns die Frage gestellt: Wie kommt es, dass solche negativen Vorstellungen über Juden von einer Generation zur anderen weitergegeben werden, obwohl sie im öffentlichen Raum tabuisiert werden? Wir denken, dass man, wenn man Antisemitismus bekämpfen will, sich einerseits die sogenannten Sozialisationsinstanzen vornehmen muss, andererseits sollte man fragen, welche Rolle die staatlichen Organisationen in dem Bereich spielen. Vielleicht wäre eine Art Runder Tisch möglich, an dem diese großen Träger im Konsens eine nachhaltige Strategie erarbeiten. In diesem Rahmen könnte man sich dann über Fragen verständigen, wie die Aufklärung über Judentum und jüdisches Leben bei der jungen Generation ankommt.

Wie sollte sich Ihrer Ansicht nach der Auftraggeber des Berichts, der Deutsche Bundestag, verhalten?
Wenn er quer durch die Fraktionen der Auffassung ist, dass Antisemitismus nach wie vor ein Phänomen ist, das uns beunruhigen sollte, dann haben wir als Experten darauf folgende Antwort: Neben der Bekämpfung des Antisemitismus in den verschiedenen Spielarten des politischen Extremismus erfordert die Zurückdrängung des Antisemitismus im gesellschaftlichen Raum langfristige und nachhaltige Arbeit. Es geht um die Entwicklung einer Strategie derjenigen Institutionen und Organisationen, die primär für Bildung und Sozialisation verantwortlich sind. Die vielen Projekte und Bundesprogramme haben natürlich ihre Berechtigung. Man sollte aber nicht vergessen, dass es staatliche Einrichtungen und große gesellschaftliche Organisationen gibt, die hier primär Verantwortung tragen.

Welche Rolle spielt eigentlich die Familie?
Natürlich ist der private Bereich in diesem Zusammenhang sehr wichtig. Über dieses wichtige Problem weiß man viel zu wenig, und wir hoffen, diese Fragen – wie andere auch – in einem späteren Bericht gründlich aufarbeiten zu können. Zunächst allerdings raten wir dem Bundestag, bei den Institutionen anzufangen. Was er mit unserem Bericht anfängt, ist seine Entscheidung.

Sie haben vorhin »die große Unbekannte«, den Islamismus, angesprochen. Was zeichnet ihn aus?
Er ist natürlich in erster Linie eine politische Ideologie und eine extremistische Interpretation des Islam. In dieser Ideologie ist Judenfeindlichkeit ein integraler Bestandteil. Wir haben versucht, den internationalen Kontext zu beschreiben und darzustellen, inwieweit islamistische Organisationen in Deutschland aktiv sind. In erster Linie sind sie verantwortlich für die Verbreitung von Propaganda und Ideologie. Bei antisemitischen Gewalttaten spielt Islamismus heute eine verhältnismäßig geringe Rolle, doch das Gefahrenpotenzial drf nicht unterschätzt werden.

Welche Rolle spielen denn soziale Netzwerke?
Im Netz passiert einiges. Das Problem ist, dass man es nicht umfassen kontrollieren kann. Möglich ist allerdings – und auf diesem Gebiet ist schon einiges geschehen – , dass man in großen Netzwerken, wie Facebook, YouTube, aber auch bei Online-Medien oder auf Plattformen wie Ebay eine Art Selbstkontrolle einführt. Es gibt auch Gegeninitiativen wie etwa das »Netz gegen Nazis« oder »hass-im-netz.info«. Es ist vermutlich auch zu wenig bekannt, dass sich jedermann wegen verhetzender Beiträge an den Jugendschutz wenden kann (»jugendschutz.net«). Letztenendes muss das Ziel aber darin bestehen, im noch stärker eine »Kultur gemeinsamer Verantwortung« zu etablieren

Mit dem Historiker sprach Katrin Richter.

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