Occupy-Bewegung

Moneten und Mythen

Protest: Occupy-Wall-Street-Demonstranten im New Yorker Zuccotti-Park Foto: Lat

Gegenüber politischen Bewegungen, die behaupten, 99 Prozent der Menschheit zu repräsentieren, ist immer Skepsis angebracht. Zu offensichtlich ist die Kollektivierung von Individualitäten, zu aufdringlich das Pathos der moralischen Empörung, der angeblich stimmenlosen Minderheit eine Stimme zu verleihen.

So verhält es sich auch mit der jüngsten Protestbewegung, die unter dem Slogan »Occupy Wall Street« in Amerika und seit einigen Tagen mit Abwandlungen der Parole auch in Deutschland auf die Straße geht. Ein Prozent der Bevölkerung würde, so das eingängige und Empörung stiftende Schlagbild, 99 Prozent beherrschen und kontrollieren. Damit wird die Unterstellung lanciert, als faktische Mehrheit von einer Minderheit dominiert zu werden.

Moralisierung In der von den Turbulenzen der internationalen Finanzmärkte erzürnten Bewegung lassen sich dabei immer wieder zwei Tendenzen ausmachen: die zur Personalisierung und die zur Moralisierung ihres Protestes. Beides verweist auf eine Kapitalismuskritik, die strukturell antisemitisch ist – und, dies zeigen nicht wenige der mittlerweile bekannten Transparente der Protestierenden, durchaus (wenn auch bisher nicht in der Mehrheit) explizit judenfeindlich auftreten kann. Die aktuellen Antibankenproteste sind dabei Teil der globalisierungs- und kapitalismuskritischen Bewegungen der vergangenen Jahre, in der antisemitisches Denken gerade durch Personalisierung und Moralisierung immer wieder befördert und gestärkt wurde und wird.

Personalisierung und Moralisierung von Kritik appellieren an ein Gesellschaftsverständnis, das abstrakte Strukturen nicht begreift, dafür aber konkrete Menschen in die Verantwortung für ein System nehmen möchte, das zugleich als anonym und unfassbar verklärt wird. Darin liegt bereits eine der großen Paradoxien der Antiglobalisierungsbewegung: Hinter einer ökonomischen Struktur anonymer Mächte (der Slogan von der »Macht der Finanzmärkte« spricht dies ganz offen an) wird nach konkret identifizierbaren Menschen gefahndet, die verantwortlich gemacht werden können.

Affekt Der Banker, der Millionen »verzockt«, der auf Geldblasen setzende Börsenspekulant oder der entlassene Vorstandsvorsitzende mit Millionenabfindungen werden zum personifizierten Feindbild, auf das sich Wut abreagiert, die aus intellektueller Unfähigkeit resultiert, die Struktur der kapitalistischen Gesellschaft zu begreifen. Selbst die banale Erkenntnis, dass, wenn der eine etwas gewinnt, der andere etwas verlieren muss (weil Reichtum und Armut im Kapitalismus immer in einem relationalen Verhältnis stehen), scheint unmöglich. Statt die Struktur zu kritisieren, werden Personen in die Verantwortung genommen – der Verstand wird damit zugunsten des Affekts suspendiert.

Dass ein solcher Blick auf die Welt einfältig ist, ist offensichtlich. Was aber ist strukturell antisemitisch an der Personalisierung und Moralisierung von Kapitalismuskritik? Kurz gesagt: die Angst vor dem Abstrakten und die Furcht vor dem Verstand. Dabei geht es nicht um eine »verkürzte« Kapitalismuskritik, sondern um einen antisemitischen Antikapitalismus, der eben die Struktur der kapitalistischen Vergesellschaftung intellektuell nicht begreift, aber gerade deshalb infantil gegen sie rebelliert. In ihrer gefühlten Ohnmacht verfolgen die Globalisierungsgegner vielleicht subjektiv gar keine antisemitischen Ziele, objektiv ist das Potenzial zum manifesten Antisemitismus aber in jeder Kapitalismuskritik angelegt, die personalisierend und moralisierend auftritt.

Denklogik Die Ursache hierfür liegt in einer wahrgenommen Differenz zwischen Abstraktem und Konkretem. Das Abstrakte wird in der kapitalistischen Gesellschaft von den Globalisierungsgegnern verteufelt: das Geld, die Aktien, der »künstliche« Profit, das Finanzkapital. Hingegen wird das Konkrete glorifiziert: die »ehrliche« und »nützliche« Arbeit, die »natürliche« Grundversorgung, das Industriekapital. Die globalisierungskritische Denklogik meint, die Probleme in den Griff bekommen zu können, wenn der verteufelte Teil des Kapitalismus angegriffen wird – und fühlt sich dabei einer anonymen, unheimlichen und scheinbar omnipotenten Macht ausgesetzt.

m diese doch fassbar zu machen, wird sie personalisiert und als moralisch nieder und verwerflich attackiert. In der antisemitischen Fantasie wird die Sphäre des Abstrakten dabei mit »den Juden« identifiziert. Denn Antisemiten glauben, dass gerade Juden diejenigen seien, die Profit aus Kapitalismus und Finanzkrise schlagen – weil sie für den Antisemiten all das verkörpern, was er selbst nicht versteht und wovor er sich fürchtet: das abstrakte Gesetz, den Verstand, die Individualität, die Freiheit, kurzum – die Moderne. Wer also Kapitalismuskritik als Finanzkapitalkritik formuliert, hat die Denklogik des Antisemitismus bereits internalisiert – und das möglicherweise sogar, ohne es zu wissen.

Der Autor ist Politikwissenschaftler. Im vergangenen Jahr erschien sein Buch »Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne« (Campus Verlag).

Australien

Polizei: Angreifer in Sydney waren Vater und Sohn 

Weitere Details des judenfeindlichen Terroranschlags werden bekannt

von Denise Sternberg  14.12.2025

Hintergrund

Der Held von Sydney

Laut australischen Medien handelt es sich um einen 43-jährigen muslimischen Vater von zwei Kindern, der einen Laden für lokale Produkte betreibt

 14.12.2025

Jerusalem

Israels Regierungschef wirft Australien Tatenlosigkeit gegen Judenhass vor

Nach einem Anschlag in Sydney fordert Netanjahu von Australien entschlosseneres Handeln gegen Judenhass. Er macht der Regierung einen schweren Vorwurf

 14.12.2025

Kommentar

Müssen immer erst Juden sterben?

Der Anschlag von Sydney sollte auch für Deutschland ein Weckruf sein. Wer weiter zulässt, dass auf Straßen und Plätzen zur globalen Intifada aufgerufen wird, sollte sich nicht wundern, wenn der Terror auch zu uns kommt

von Michael Thaidigsmann  14.12.2025

Meinung

Blut statt Licht

Das Abwarten, Abwiegeln, das Aber, mit dem die westlichen Gesellschaften auf den rasenden Antisemitismus reagieren, machen das nächste Massaker nur zu einer Frage der Zeit. Nun war es also wieder so weit

von Sophie Albers Ben Chamo  14.12.2025 Aktualisiert

Anschlag in Sydney

Felix Klein: »Von Terror und Hass nicht einschüchtern lassen«

Zwei Männer töten und verletzen in Sydney zahlreiche Teilnehmer einer Chanukka-Feier. Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung äußert sich zu der Tat

 14.12.2025

Terror in Sydney

Zivilist entwaffnet Angreifer und wird als »Held« gefeiert

Zwei Männer schießen auf Teilnehmer einer Chanukka-Feier in Sydney: Es gibt Tote und Verletzte. Ein Video soll nun den mutigen Einsatz eines Passanten zeigen

 14.12.2025

Australien

Merz: »Angriff auf unsere gemeinsamen Werte«

Bei einem Anschlag auf eine Chanukka-Feier in der australischen Metropole gab es viele Tote und Verletzte. Der Bundeskanzler und die Minister Wadephul und Prien äußern sich zu der Tat

 14.12.2025 Aktualisiert

Terror in Sydney

Zentralrat der Juden: »In Gedanken bei den Betroffenen«

Der Zentralrat der Juden und weitere jüdische Organisationen aus Deutschland äußern sich zu dem Anschlag auf eine Chanukka-Feier im australischen Sydney

 14.12.2025 Aktualisiert