Pro & Contra

Lockerungen zu Chanukka?

Chanukka im Kreis der Familie oder lieber alleine feiern? Foto: Getty Images/iStockphoto

Pro & Contra

Lockerungen zu Chanukka?

Sollen Corona-Ausnahmeregeln auch am jüdischen Lichterfest gelten? Zwei Meinungen zur Debatte

von Chajm Guski, Micha Brumlik  03.12.2020 08:30 Uhr

PRO – Micha Brumlik sagt: »Weihnachten und Chanukka sind familienpolitisch gleich bedeutsam.«

Kaum zu glauben, dass eine Debatte darüber, ob jüdische Familienfeiern stärkeren Einschränkungen ausgesetzt sein sollen als christliche Weihnachtsfeiern, zu Beginn des Jahres 2021 stattfindet. Diskutiert wird, ob für das jüdische Chanukkafest dieselben coronabezogenen Erleichterungen gelten sollen wie für das Weihnachtsfest – eine Frage, die viele Jüdinnen und Juden derzeit bewegt. Meine Antwort darauf ist eindeutig: Ja, eine Lockerung der Kontaktbeschränkungen sollte nicht einseitig nur an christlichen Feiertagen gelten!

Was das mit dem Beginn von 2021 zu tun hat? Nun, Chanukka 2020 liegt gerade einige Wochen vor dem Beginn des Jahres 2021, jenes Jahres, an dem bundesweit der 1700 Jahre währenden Existenz des Judentums in deutschen Ländern feierlich gedacht werden soll. Und damit auch des römischen Kaisers Konstantin, der am 11. Dezember des Jahres 321 die Zulassung von Juden in den Rat der Stadt Köln verfügte.

Sol Invictus Ebendiesem Kaiser verdanken christliche Gesellschaften das Weihnachtsfest: Die Religionsgeschichte glaubt zu wissen, dass der angebliche Geburtstag Jesu am 25. Dezember seit dem Jahr 336 als kirchlicher Feiertag belegt ist – also seit den Tagen Kaiser Konstantins, der sich noch auf dem Sterbebett taufen ließ. Tatsächlich aber wurde dieser Tag im Dezember schon mehrere Jahrzehnte früher reichsweit gefeiert: War es doch schon Kaiser Aurelian, der im Jahr 274 den 25. Dezember als Feiertag des »Sol Invictus«, des unbesiegten Sonnengottes, einführte.

Auf jeden Fall erweisen sich das im Tanach (der Hebräischen Bibel) nicht bezeugte Chanukka ebenso wie das Weihnachtsfest als Feste einer stets familienbezogenen Religion des Lichts; eines Festes, das sich im deutschen Judentum noch bis ins frühe 20. Jahrhundert erstreckt hat.

So feierten die deutschen Juden im 19. und frühen 20. Jahrhundert nur zu gerne – wie vor Jahren eine Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin gezeigt hat – »Weihnukka«, indem sie selbst einen Weihnachtsbaum aufstellten und schmückten und nach dem Entzünden der Chanukkalichter für die Kinder des Hauses eine Bescherung veranstalteten – oder ihnen zumindest ein kleines »Chanukkageld« zukommen ließen.

Wiener Kongress Historisch gesichert beging zum Beispiel die aus Berlin nach Wien gezogene jüdische Salonnière Fanny von Arnstein (1758–1818) Weihnukka. Ihre Biografin Hilde Spiel gibt eine zeitgenössische Quelle aus den Tagen des Wiener Kongresses, dem Jahr 1815, wieder: »Bei Arnsteins war vorgestern nach Berliner Sitte ein sehr zahlreiches Weihnachtsbaum- oder Christbaumfest. Es waren dort Staatskanzler Hardenberg (und) alle Anverwandten des Hauses. Alle gebetenen, eingeladenen Personen erhielten Geschenke oder Souvenirs vom Christbaum. Es wurden nach Berliner Sitte komische Lieder gesungen …«

Dass Juden dennoch auf ihrer eigenen Tradition bestanden, hat der Anarchist Erich Mühsam (1878–1934) beschrieben. Er wurde 1934 im KZ Oranienburg ermordet. 1914 dichtete er: »Geboren ward zu Bethlehem/ ein Kindlein aus dem Stamme Sem./ Und ist es auch schon lange her,/ seit’s in der Krippe lag,/ so freun sich doch die Menschen sehr/ bis auf den heutigen Tag./ Minister und Agrarier,/ Bourgeois und Proletarier –/ es feiert jeder Arier/ zu gleicher Zeit und überall/ die Christgeburt im Rindviehstall/ (Das Volk allein, dem es geschah,/ das feiert lieber Chanukka.)«

Darüber, dass Deutschland zutiefst christlich geprägt ist, muss angesichts der mittelalterlichen Kirchen, die unsere Innenstädte bis heute prägen, nicht debattiert werden. Dass die Bundesrepublik Deutschland gleichwohl keine Staatsreli-gion hat, sollte jedoch ebenso klar sein. Anders als etwa Frankreich ist die Bundesrepublik nämlich kein laizistischer, sondern ein religionsneutraler Staat, der – wie Artikel 7 unseres Grundgesetzes mit seiner Garantie des Religionsunterrichts zeigt – Religion im öffentlichen Raum durchaus fördert.

Grundgesetz Zudem hat das Grundgesetz einschlägige Artikel der Weimarer Verfassung übernommen und sie in seinen Artikeln 136–140 bekräftigt. Auch – keineswegs nur – darauf gestützt, haben Bundes- und Landesregierungen für die diesjährigen Weihnachtsfeiertage in der vergangenen Woche Ausnahmen von den coronabedingten Kontaktbeschränkungen für Familien verfügt.

Dann aber muss der religionsverfassungsrechtliche Gleichheitsgrundsatz angewendet und verfügt werden, dass dies auch für die Chanukkafeiertage, die ja auch religiöse Familienfeste sind, gelten muss. Eine Einschränkung würde ich allerdings machen: Traditionellerweise sind die beiden ersten Tage des achttägigen Chanukkafests – realistisch gesehen – bedeutsamer als die späteren fünf bis sechs Tage. Hier ist Raum für einen politischen Kompromiss. Abgesehen davon müssen aber für die beiden ersten Tage von Chanukka dieselben Erleichterungen gelten wie für Weihnachten!

Micha Brumlik ist Erziehungswissenschaftler, Publizist und Mitglied der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.


CONTRA – Chajm Guski findet: »Es kommt nicht auf die Zahl der Teilnehmer an, sondern auf den Schutz der Schwachen.«

Bei den Corona-Kontaktbeschränkungen wird es Erleichterungen für das Weihnachtsfest geben. Das kam nicht überraschend – natürlich waren Ausnahmen zu erwarten. Offenbar denken manche, dass man das Fest nur dann erfolgreich von der Liste abhaken kann, wenn man möglichst viele Begegnungen hatte. Aber wir alle wissen genau, dass einige Menschen im Januar dafür den Preis bezahlen müssen – womöglich mit ihrem Leben.

Dass viele Bürger in diesem Land überhaupt nicht Weihnachten feiern, wurde bei den Corona-Ausnahmen zunächst nicht bedacht – und Chanukka schon gar nicht. Ja, das ist ärgerlich, aber ebenfalls nicht überraschend. Im Diskurs der Mehrheitsgesellschaft wird das Judentum viel zu oft nicht mitgedacht. Natürlich wäre es »freundlich« oder »gerechter«, alle Bürger gleichzubehandeln, aber es ist in dieser Situation nicht notwendig. Eine Ausnahme für Chanukka wäre schon »technisch« schwierig. Soll man jüdische Familien im Vorfeld beim Ordnungsamt anmelden? Wie soll das nachgewiesen werden?

Pandemie Es existiert bereits ein gutes Beispiel für das Feiern wichtiger Feste während der Pandemie – denken wir an das vergangene Frühjahr! Gerade Pessach feiert man gerne in größerer Runde beim Seder, auch weil nicht alle in der Lage sind, einen auszurichten. Und dennoch gab es auch im Frühjahr kaum Stimmen, die weitreichende Ausnahmen forderten. Sara Soussan hat das bei Twitter mit einem Augenzwinkern formuliert: »Wir könnten wertvolle Tipps geben, wie man im Lockdown feiern kann #pessach2020«.

Ja, die weihnachtsbewegte Mehrheitsgesellschaft sollte sich genauer anschauen, wie wir Pessach gefeiert haben. Feste in ihrem vollen religiösen Sinn sind auch im kleinen Kreis möglich! Der Erfolg misst sich nicht an der Zahl der Teilnehmer. So kann Pessach auch Vorbild für Chanukka sein, denn immerhin ist Chanukka ein »kleineres« Fest als Pessach.

Dezember Aber es ist auch aus anderen Gründen keine gute Idee, auf einer Ausnahme zu bestehen und auf große Versammlungen zu drängen. Erinnern wir uns: Chanukka ist nicht die jüdische Version von Weihnachten. Chanukka war und ist zwar für viele von uns eine gute Gelegenheit, an der allgemeinen festlichen Zeit im Dezember teilzuhaben, der »most wonderful time of the year«, wie es im gleichnamigen Weihnachtslied heißt, das übrigens aus der Feder des jüdischen Musikers George Wyle stammt, ohne den eigenen Background »verraten« zu müssen. Geschenke für die Kinder, Lichterglanz in den Häusern, große Runden mit Verwandten und Freunden, Chanukka-Schmuck für die Fenster … Manischewitz bietet sogar ein »Chanukka house« als Alternative zum Lebkuchenhaus an.

Chanukka ist vielleicht auch deshalb denjenigen zugänglich, die nur eine lockere Verbindung zur jüdischen Tradi-tion haben – ein »kleiner« Feiertag mit großer Sogwirkung.

Aber dabei geht ein wenig unter, dass der zentrale Aspekt von Chanukka »Pirsumej Nisa«, das »Bekanntmachen des Wunders«, ist. Dieses Gebot soll durch das Aufstellen der Chanukkia an einem Ort, der von möglichst vielen Menschen gesehen wird, erfüllt werden. Das geht so weit, dass Maimonides in seiner Mischne Tora andeutet, man hätte die Mizwa nicht erfüllt, wenn es niemand gesehen hat.

Das bedeutet aber nicht, dass alle direkt beieinanderstehen müssen. Heute gibt es zahlreiche andere Möglichkeiten, das Licht zu sehen. Es ist gar nicht notwendig, dass sich möglichst viele Menschen auf engem Raum dazu versammeln müssen. Und wenn in den letzten Jahren das öffentliche Zünden der Kerzen in vielen Großstädten populärer wurde, kann dieses Jahr auch ein gemeinsames Zünden über »Zoom« denselben Zweck erfüllen.

Pessach Und hier kommen wir zum Vorbild Pessach zurück: Feiern geht auch im Nukleus des jüdischen Lebens, im engsten Familienkreis. Dort gehört es hin. Das öffentliche Zünden im großen Kreis ist eine Zugabe, kein Ersatz. Auch ohne Zerstreuung und mit Blick auf das Wesentliche hat man die Möglichkeit, das Wunder bekannt zu machen – allerdings ohne Menschen möglicherweise in Gefahr zu bringen.

Soll es doch Corona-Ausnahmen an Weihnachten geben! Nicht alles, was gesetzlich erlaubt ist, muss auch gemacht werden. Im Talmud heißt es an der Stelle, an der über das Zünden der Kerzen diskutiert wird (Schabbat 21b), es gebe Menschen, die Gebote gewissenhaft beachten (»mehadrin«), und es gebe diejenigen, die es besonders streng nehmen (»mehadrin min hamehadrin«).

Ich würde mir für das Beachten der Abstandsregeln in diesen Tagen wünschen, dass wir sie »mehadrin min hamehadrin« beachten, statt auf das zu schielen, was möglicherweise erlaubt sein könnte. Wir alle wissen es doch besser: Es geht darum, die Schwachen so lange zu schützen, bis der Impfstoff endlich verfügbar ist. Nichts würde dem Chanukkafest mehr widersprechen, als die Freiheit des Judentums zu feiern und dabei grundlegende jüdische Werte zu ignorieren!

Chajm Guski ist Publizist und Mitglied der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen.

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