Plädoyer

Klares Bekenntnis

Der amerikanische Politiker Joseph Lieberman ist gläubiger Jude. Am 19. März 2008 betete er an der Kotel in Jerusalem. Foto: Reuters

Sollen sich Politikerinnen und Politiker durch öffentliches Gebet oder das demonstrative Tragen religiöser Kleidung und Symbole – von Turbanen, Kippot oder Kopftüchern bis zum Kreuzschmuck – zu ihrem Glauben bekennen und diesen öffentlich kenntlich machen? Gefährdet das gar am Ende die Demokratie?

Durchaus nicht, denn: Zur liberalen und parlamentarischen Demokratie gehört wesentlich, dass Wählerinnen und Wähler wissen, wer ihre Interessen vertritt und wem sie vertrauen können. Daher ist das öffentliche Bekenntnis von Abgeordneten und Ministern zu ihrem Glauben nicht nur hinzunehmen, sondern sogar wünschenswert, wenn nicht notwendig. Wollen wir, das Wahlvolk, doch wissen, welchen Prinzipien und Überzeugungen sich die von uns Gewählten verpflichtet sehen.

MENSCHENBILD Indes fällt auf, dass sich dieses öffentliche Bekenntnis oft genug in Leerformeln erschöpft. Worin besteht denn etwa genau das neuerdings sogar von jüdischen Abgeordneten akzeptierte »christliche Menschenbild«? Und was ist daran spezifisch christlich? Die grundgesetzlich garantierte »Würde des Menschen« lässt sich schließlich auch auf Basis der Aufklärung, ganz ohne Religion, postulieren.

Wählerinnen und Wähler sollten wissen, wer ihre Interessen vertritt.

Vor allem aber: Ob Religionen und das öffentliche Bekenntnis zu ihnen demokratieverträglich sind oder nicht, entscheidet sich letztlich daran, ob sie fundamentalistisch sind oder nicht. Was aber ist genau unter Fundamentalismus zu verstehen?

Fundamentalismus stellt eine autoritäre Haltung zu den überlieferten, meist textlichen Grundlagen einer Religion dar. Dabei wäre zu klären, ob es ausschließlich um textbasierte Religionen geht oder ob fundamentalistische Haltungen nicht auch auf der Basis für sakrosankt gehaltener mündlicher Überlieferungen möglich sind – etwa der sogenannte Hindufundamentalismus, der auf eindeutige Textdokumente zu verzichten scheint.

TORA Auf jeden Fall: Fundamentalismus besteht darin, den jeweiligen Texten – Tora, Evangelien oder Koran – ihr Wesen als Ausdrucksformen historisch entstandener menschlicher Erfahrungen abzusprechen und sie als authentische Äußerungen göttlicher oder von Gott auserwählter Personen zu verstehen und ihnen damit unbedingte Autorität zuzusprechen.

Die Auszeichnung von Texten oder mündlichen Überlieferungen als mit absoluter Autorität ausgestattete Quellen erfordert freilich Personen, die diese Quellen deuten. Fundamentalistische Haltungen zeichnen sich dann dadurch aus, dass sie die Gott oder den Texten zugeschriebene Autorität ihren Auslegern zuschreiben und damit – anders als beansprucht – nicht Gott, sondern endlichen Menschen absolute Autorität zusprechen. Da aber die Texte oftmals widersprüchlich, vielstimmig oder unklar sind, läuft die behauptete Autorität von Texten stets auf eine Selbstermächtigung der Deuter hinaus.

Die Beanspruchung göttlicher Autorität  und freier Meinungsbildung widersprechen einander notwendig.

Die von den Deutern beanspruchte Teilhabe an der Autorität göttlicher Texte führt dann politisch zu einer immer auch gesetzgeberisch verstandenen Autorität der Deuter, die Widerspruch oder Ungehorsam nicht dulden und daher undemokratisch sind. Vor allem jedoch geht es Fundamentalisten aller Art um das dogmatische Festschreiben von Aussagen darüber, wie die Welt ist und – daraus abgeleitet – wie sie sein soll, genauer: wie sich die der Herrschaft fundamentalistischer Ausleger unterworfenen Menschen verhalten sollen.

Die Beanspruchung göttlicher Autorität hier und freier Meinungsbildung dort widersprechen einander notwendig, weshalb fundamentalistische Überzeugungen und eine demokratische Kultur beziehungsweise Lebensform grundsätzlich unvereinbar sind. Das schließt nicht aus, dass sich fundamentalistische Gruppierungen mit dem Ziel, politische Macht zu erringen, an demokratischen Wahlen beteiligen.

ISRAEL Zu welchen Problemen das führen kann, lässt sich etwa im Staat Israel am Streit über die öffentliche Schabbatruhe oder das »züchtige« Auftreten von Soldatinnen beobachten. In islamisch geprägten, in aller Regel nicht demokratischen, Staaten wiederum sind es ernannte, nicht gewählte Rechtsgelehrte, die das, was als Scharia gilt, auslegen. So konnten sich die Gesetzgeber in Saudi-Arabien immerhin zu der Einsicht durchringen, dass es göttlichem Willen nicht widerspricht, wenn Frauen Autos lenken.

Die aktuelle Auseinandersetzung im Deutschen Bundestag über die Frage, ob Ärztinnen und Ärzte darüber informieren dürfen, dass sie Schwangerschaftsabbrüche anbieten, ist ein aktuelles Beispiel dafür, wie religiöse Überzeugungen und liberale Freiheiten in der Demokratie in Konflikt geraten können. Für solche Fälle hat die parlamentarische Demokratie in Deutschland das Institut der vom Fraktionszwang befreiten Gewissensentscheidung hervorgebracht.

Das ist ein, wenn man so will, lutherisches Erbe: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders.« Allerdings: Ebendiese Gewissenshaltung sollte bekannt sein, bevor jemand gewählt wird. Und genau deshalb ist es wünschenswert, wenn nicht gar notwendig, dass Politiker ihre Glaubensüberzeugungen öffentlich machen.

Der Autor ist Publizist und Erziehungswissenschaftler in Berlin.

Ehrung

»Wir Nichtjuden sind in der Pflicht«

Am Mittwochabend wurde Karoline Preisler mit dem Paul-Spiegel-Preis des Zentralrats der Juden in Deutschland ausgezeichnet. Wir dokumentieren ihre Dankesrede

 06.11.2025 Aktualisiert

Medien

So erzeugt man einen gefährlichen Spin

Wie das Medienunternehmen »Correctiv« den Versuch unternimmt, die Arbeit des israelischen Psychologen Ahmad Mansour fragwürdig erscheinen zu lassen

von Susanne Schröter  06.11.2025

Meinung

Wenn deutsche Linke jüdische Selbstbestimmung ablehnen

In einer Resolution delegitimiert die Linksjugend Israel als koloniales, rassistisches Projekt. Dabei ist der Staat der Juden nicht zuletzt eine Konsequenz aus den Verbrechen der Deutschen im Nationalsozialismus

von Frederik Schindler  06.11.2025

Ostdeutschland

AfD-Regierung als »Schreckensszenario«

Zehn Monate vor den Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt wächst in den jüdischen Gemeinden die Sorge vor einem Sieg der AfD

von Joshua Schultheis  06.11.2025

9. November

Erinnerung ohne Empathie ist leer

Wenn Deutschland am Sonntag der Pogromnacht gedenkt, darf Erinnerung nicht nur rückwärtsgewandt sein. Sie muss auch die Angst der Juden von heute im Blick haben

von Tobias Kühn  06.11.2025

Karlsruhe/Aarhus

Erneut Festnahme wegen mutmaßlicher Terrorpläne gegen jüdische Ziele

In Dänemark wurde ein Afghane festgenommen, der nach Erkenntnissen des deutschen Generalbundesanwalts Waffen und Sprengstoff für Anschläge auf Einrichtungen in Deutschland beschaffen sollte

 06.11.2025

Hanau

Hakenkreuze aus Menschenblut auf Autos geschmiert

Schauerliche Entdeckung im Hanauer Stadtteil Lamboy: Das Nazi-Symbol wurde auf Autos, Briefkästen und Hauswänden entdeckt. Die Polizei bittet die Bevölkerung um Hinweise

 06.11.2025

Berlin

Untersuchungsausschuss zu Fördergeld-Vergabe steht an

Wurde Förderung für Projekte gegen Antisemitismus nach politischen Wünschen der Berliner CDU vergeben? Grüne und Linke wollen die Vergabe durch Kultursenatoren nun genau durchleuchten

 06.11.2025

Laudatio

»Wie hält man so etwas aus?«

Bundestagspräsidentin Julia Klöckner hielt die Laudatio auf Karoline Preisler anlässlich der Verleihung des Paul-Spiegel-Preises in Berlin. Eine Dokumentation

von Julia Klöckner  05.11.2025