Staatswesen

Kehrtwende

Hoppla, wo geht’s denn hier in Richtung ethischer Grundkonsens, der Islam, Christentum und Judentum eint? Foto: Frank Albinus

Die Religionsgemeinschaften in Deutschland können sich über den Staat kaum beklagen. Durch Steuereinzug und Unterrichtsgarantie sichert er etwa den christlichen Kirchen finanzielle Grundlage und Einfluss. Beim Evangelischen Kirchentag treten die Politiker einander auf die Füße, und im Herbst darf der Papst im Bundestag sprechen. Auch die kleine Gemeinschaft der Juden erfreut sich regelmäßigen offiziellen Zuspruchs. Nur zu den etwa vier Millionen Muslimen bleibt das Verhältnis gespannt.

Staatstragend Ausgerechnet Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich versucht nun einen neuen Anlauf zur Entspannung. Überraschend propagiert der CSU-Politiker zwar nicht die multikulturelle, aber doch die »multireligiöse Gesellschaft«. Den Islam reiht er unter die staatstragenden Bekenntnisse ein. Diese Wende veröffentlichte er zwar an prominenter Stelle in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, aber ausgerechnet an dem Tag, da der Atomausstieg zur Beschlusssache wurde. So hatte die kleine geistige Revolution des 54-Jährigen keine Chance, auch nur einen Hauch des knappen Gutes öffentliche Aufmerksamkeit zu erhaschen. Schade!

Zur Erinnerung: An der Seite seines Parteivorsitzenden Horst Seehofer hatte der frisch bestellte Innenminister Anfang März erklärt, dass der »Islam Teil unserer Kultur« sei, unterschreibe er nicht. »Die Leitkultur in Deutschland ist die christlich-jüdisch-abendländische Kultur. Sie ist nicht die islamische und wird es auch nicht in Zukunft sein.« Damit setzte er sich von gegenteiligen Äußerungen seiner christdemokratischen Vorgänger Thomas de Maizière und Wolfgang Schäuble, vor allem aber von Bundespräsident Christian Wulff ab. In seiner ersten großen Rede hatte das Staatsoberhaupt am Tag der Deutschen Einheit 2010 erklärt, wie Christentum und Judentum gehöre der Islam »inzwischen auch zu Deutschland«.

Scheuklappen Unter der Überschrift »Bindendes Element unserer Gesellschaft« schaltet der Innenminister wenige Wochen nach seinem ausgrenzenden Islam-Statement auf Integration. Dazu stützt Friedrich sich auf den berühmten Satz des ehemaligen Verfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde: »Der freiheitliche Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann« – den Werten der religiösen Tradition eben. Wer aber »ohne Scheuklappen den interreligiösen Dialog« suche, werde feststellen, »dass es auch unter Einbeziehung der drei monotheistischen Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam möglich ist, diesen ethischen Grundkonsens in unserem gesellschaftlichen Leben zu aktualisieren und zu entfalten«, argumentiert Friedrich nun. »Religiöse Werte prägen das soziale Miteinander.« In einer »multireligiösen Gesellschaft« könnten die unterschiedlichen Bekenntnisse durchaus »bereichernd für die Gemeinschaft insgesamt sein, wenn sie aus der Verantwortung vor Gott die Menschen zur Hinwendung zum Nächsten auffordern und sie gegen Gleichgültigkeit, Egoismus und Ignoranz sensibilisieren«.

Sicher, das ist kein vorbehaltloses »Lasset die (Muslim-)Kindlein zu mir kommen«! Aber der CSU-Politiker lässt den ausgrenzend pädagogischen Begriff der »Leit- kultur« außen vor und stellt nicht mehr die vermeintlich abendländischen Religionen Christentum und Judentum auf der einen Seite gegen den morgenländischen, also fremden Islam auf der anderen. Auch von Deutschland ist keine Rede mehr. Stattdessen hebt Friedrich den Monotheismus als verbindendes Element hervor und unterstellt dem Islam dieselbe Fähigkeit, den säkularen Staat im Allgemeinen gemeinschaftsstiftend zu grundieren wie die beiden anderen monotheistischen Religionen.

Gescholten Der Islam als bindendes Element unserer Gesellschaft! So weit ist nicht mal der von Friedrichs Parteifreunden heftig gescholtene Bundespräsident gegangen. Die Wucht der Kritik an seiner ersten, spontan formulierten kritischen Äußerung hat den Politiker, der nicht zu den Hardlinern in der CSU zählt, überrascht. Inzwischen dämmert es ihm offenbar, dass er als Innenminister der Bundesrepublik Deutschland einer größeren Zahl von Menschen verpflichtet ist als nur den schwarzen Funktionären im weißblauen Freistaat.

Also begab er sich auf Rückzug. Klar bleibe er bei seinem Satz, ließ er verbreiten, aber er sei eben nur unvollkommen zitiert worden. Schließlich habe er die hier lebenden Muslime sehr wohl zu Deutschland gezählt. Aber eine Formulierung, wie sie die frühere EKD-Ratsvorsitzende Margot Käßmann gerade auf dem Evangelischen Kirchentag fand, ging ihm dann doch nicht über die Lippen: »Menschen muslimischen Glaubens gehören zu Deutschland und damit eben auch der Islam.«

Das wäre der offensiven Revision zu viel gewesen. Der Christsoziale wählte einen anderen Weg. Den Text hat Friedrich, so ist zu hören, höchstpersönlich geschrieben, die Referentenentwürfe seines Hauses hinter sich lassend. Es darf also unterstellt werden: Der Minister weiß um die Brisanz seiner Äußerungen. Im Interesse des Zusam- menhalts in dieser Gesellschaft wäre es gut, er brächte seine neuen Erkenntnisse offensiv unter das multireligiöse Volk.

Meinung

Es gibt kein Weihnukka!

Ja, Juden und Christen wollen und sollen einander nahe sein. Aber bitte ohne sich gegenseitig zu vereinnahmen

von Avitall Gerstetter  20.12.2025

Faktencheck

Berichte über israelischen Pass Selenskyjs sind Fälschung

Ukrainische Behörden ermitteln wegen hochrangiger Korruption. Doch unter diesen Fakten mischen sich Fälschungen: So ist erfunden, dass bei einer Razzia ein israelischer Pass Selenskyjs gefunden wurde

 20.12.2025

Analyse

Ankaras Machtspiele

Manche befürchten schon einen »neuen Iran«. Warum Israel die Türkei zunehmend als Bedrohung wahrnimmt

von Ralf Balke  20.12.2025

Bundestag

Zentralrat verteidigt Weimers Gedenkstättenkonzept

Der Ausschuss für Kultur und Medien hörte Experten zu der Frage an, ob über den Holocaust hinaus auch andere Verbrechen Teil der deutschen Erinnerungskultur sein sollen

 19.12.2025

Frankreich

Drei Jahre Haft für antisemitisches Kindermädchen

Ein französisches Gericht hat eine Algerierin zur einer Gefängnisstrafe verurteilt, weil sie einer jüdischen Familie Reinigungsmittel ins Essen, Trinken und die Kosmetika mischte

 19.12.2025

Berlin

Bericht über Missbrauch internationaler Hilfe durch Hamas im Bundestag vorgestellt

Olga Deutsch von der Organisation NGO Monitor sagt, während die Bundesregierung über Beiträge zum Wiederaufbau Gazas berate, sei es entscheidend, auf bestehende Risiken hinzuweisen

von Imanuel Marcus  19.12.2025

Meinung

Heute Juden, morgen Christen

Judenhass führt konsequent zum Mord. Dafür darf es kein Alibi geben

von Rafael Seligmann  19.12.2025

Tel Aviv/Berlin

Israel unterzeichnet weiteren Vertrag mit Deutschland über Raketenabwehr

Es handelt sich um das größte Rüstungsgeschäft in der Geschichte des jüdischen Staates

 19.12.2025

Sydney/Canberra

Nach Terroranschlag von Bondi Beach: Australien plant nationalen Trauertag

Die Regierung kündigt zudem umfassende Maßnahmen an. Dazu gehört eine landesweite Rückkaufaktion für Schusswaffen

 19.12.2025