20. November 1945

»Jeder von uns hat die Prozesse gewollt«

Am 20. November 1945 begann der Hauptkriegsverbrecherprozess gegen 24 NS-Schergen. Foto: imago images/Leemage

»Es war eine ganz gewöhnliche Tour«, erinnert sich der 97-jährige Ernest Lorch. Vor 75 Jahren kam er mit seinem Militärkonvoi von Luxemburg nach Nürnberg. Aber er weiß natürlich, dass er mit dieser »Tour« im November 1945 an einem Stück Weltgeschichte beteiligt war.

Denn der gebürtige Nürnberger Jude kam in seine Heimatstadt als US-Soldat zurück – und transportierte hochrangige gefangene Nazi-Funktionäre zu den Nürnberger Prozessen, darunter Reichsmarschall Hermann Göring, Botschafter Franz von Papen, Rüstungsminister Albert Speer, den Generalgouverneur für Polen, Hans Frank, und den Nürnberger Gauleiter und Hetzer Julius Streicher.

gefangenentransport Viele Details sind Lorch noch präsent. Streicher hätte er gern einen Tritt verpasst: »Aber das habe ich nicht gemacht«, sagte er dem Evangelischen Pressedienst (epd) am Telefon. Göring sei »noch auf Drogen gewesen«. Der Gefangenentransport habe den unzerstörten Nürnberger Justizpalast umrunden müssen, um dann über eine Gasse das Gefängnis zu erreichen. Ein Feldwebel quittiert seine besondere Fracht lapidar mit: »22 lebende Menschen«. »Dann war für mich alles erledigt.«

Vor 75 Jahren kam Ernest Lorch mit seinem Militärkonvoi von Luxemburg nach Nürnberg. Ein Feldwebel quittiert seine besondere Fracht lapidar mit: »22 lebende Menschen«.

Am 20. November 1945 beginnt dann der Hauptkriegsverbrecherprozess gegen 24 NS-Schergen. Die vier Siegermächte haben ein Internationales Militärtribunal geschaffen, um ranghohe Vertreter des NS-Staates anzuklagen und zu verurteilen. Sie legen damit den Grundstein für das moderne Völkerrecht.

Die zentralen Anklagepunkte lauten: Verbrechen gegen Frieden und gegen die Menschlichkeit, Führung von Angriffskriegen, Verbrechen gegen feindliche Truppen und Zivilbevölkerung. Der Massenmord an den Juden war kein eigener Anklagepunkt, er wurde vor allem unter Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhandelt.

anklagebank »Jetzt sitzen also der Krieg, der Pogrom, der Menschenraub, der Mord en gros und die Folter auf der Anklagebank«, notierte damals Erich Kästner in einem Artikel für die »Neue Zeitung«. »Riesengroß und unsichtbar sitzen sie neben den angeklagten Menschen.«

US-Soldat Ernest Lorch bekommt nach der Ankunft in Nürnberg ein Zimmer mit Bettlaken und eigenem Bad im prächtigen Grand Hotel, wie er sich erinnert. Dann habe er sich die Altstadt angeschaut – auch die Stelle, wo neben dem mittelalterlichen Nassauer Turm das Juweliergeschäft seines Vaters war: Hier ist der jüdische Junge, Jahrgang 1923, einige Jahre zuvor behütet aufgewachsen. Sein Vater Fritz führte das vom Großvater eröffnete Juweliergeschäft weiter.

»Ich bin in der Schule oder auf der Straße niemals als Jude beleidigt worden«, sagt er im Rückblick. Familie Lorch dachte auch nach den 1935 verabschiedeten Nürnberger Rassegesetzen nicht an Flucht. »Unser Leben war einigermaßen normal, das Geschäft ging relativ gut.«

pogromnacht Die trügerische Ruhe ändert sich schlagartig mit der Pogromnacht. Der 15-Jährige besucht eine Schule in Berlin, als ein Telefonanruf ihn eilig nach Haus holt: Sein Vater, mittlerweile mit US-Visum in der Tasche, wird von der SA aus einem Krankenhaus gezerrt. Und totgeprügelt. Kurz darauf verlassen seine Mutter und er Deutschland. In den USA war ihm klar: »Ich will unbedingt gegen die Nazis kämpfen.« 1945 steht er als GI in seiner zerstörten früheren Heimatstadt – froh, dass die Alliierten den Krieg gewonnen haben.

Der erste Nürnberger Prozess endete am 1. Oktober 1946 mit zwölf Todesurteilen durch Erhängen, drei lebenslangen sowie vier langjährigen Freiheitsstrafen und drei Freisprüchen. Mit den Kriegsverbrecher-Prozessen war Nürnberg auch der Geburtsort des modernen Völkerstrafrechts.

Mit den Kriegsverbrecher-Prozessen war Nürnberg auch der Geburtsort des modernen Völkerstrafrechts.

Schon 1950 formulierte die Völkerrechtskommission mit den »Nürnberger Prinzipien« einen zentralen Baustein dafür. Alle internationalen Gerichtshöfe und Tribunale sowie insbesondere der Internationale Strafgerichtshof im niederländischen Den Haag gründen sich auf diese sieben Prinzipien.

völkerrecht Auf dieser Grundlage wurde auch die »Internationale Akademie Nürnberger Prinzipien« in Nürnberg gegründet. Sie unterstützt den Kampf gegen die Straflosigkeit von Verbrechen gegen das Völkerrecht und will die Durchsetzung dieser Prinzipien fördern.

Seit ein paar Wochen arbeitet die Stiftung aus dem Ostflügel des Nürnberger Justizpalastes heraus – in unmittelbarer Nähe des Schwurgerichtssaals 600, wo der erste Kriegsverbrecherprozess stattfand. Seit diesem Jahr ist der Saal vom regulären Gerichtsbetrieb abgekoppelt. Er steht nun ausschließlich dem Memorium Nürnberger Prozesse, einer Informations- und Dokumentationsstätte am historischen Ort, als Herzstück zu Verfügung.

Auch Ernest Lorch hat diesen historischen Schwurgerichtssaal bei einem seiner späteren Nürnberg-Besuche in Augenschein genommen. Die Prozesse – »jeder von uns hat die Prozesse gewollt« – verfolgte der 22-jährige US-Soldat aber aus der Ferne. Bereits im Dezember 1945 war er wieder zurück in seiner neuen Heimat Amerika: »Ich war nicht dabei, aber es waren gute Urteile.«

Judenhass

Berlin-Kreuzberg: Antisemitische Parolen in Schule - Lehrerin angespuckt

Die Hintergründe

 04.11.2025

Meinung

Wenn deutsche Linke jüdische Selbstbestimmung ablehnen

In einer Resolution delegitimiert die Linksjugend Israel als koloniales, rassistisches Projekt. Dabei ist der Staat der Juden nicht zuletzt eine Konsequenz aus den Verbrechen der Deutschen im Nationalsozialismus

von Frederik Schindler  04.11.2025

Auswärtiges Amt

Deutschland entschärft Reisehinweise für Israel

Nach Beginn des Gaza-Krieges hatte das Auswärtige Amt vor Reisen in Teile Israels gewarnt. Dies gilt so nicht mehr. Der Außenminister begründet das mit gewachsenem Vertrauen in den Friedensprozess

 04.11.2025

Würdigung

Margot Friedländer wird mit Sonderbriefmarke geehrt

Wie das Finanzministerium mitteilte, war die Sonderbriefmarke für Friedländer ein »besonderes Anliegen« von Bundesfinanzminister Lars Klingbeil

 04.11.2025

Jerusalem

Nach Eklat in Jerusalem: Westfälische Präses setzt auf Dialog

Projekte, Gedenkorte und viele Gespräche: Die Theologin Ruck-Schröder war mit einer Delegation des NRW-Landtags fünf Tage in Israel und im Westjordanland. Angesichts der Spannungen setzt sie auf dem Weg zur Verständigung auf Begegnungen und Dialog

von Ingo Lehnick  04.11.2025

Gedenkstätten

Gedenkzeichen für jüdische Ravensbrück-Häftlinge

Zur feierlichen Enthüllung werden unter anderem Zentralratspräsident Josef Schuster, die brandenburgische Kulturministerin Manja Schüle (SPD) und der Beauftragte für Erinnerungskultur beim Kulturstaatsminister, Robin Mishra, erwartet

 03.11.2025

Innere Sicherheit

Dschihadistisch motivierter Anschlag geplant: Spezialeinsatzkommando nimmt Syrer in Berlin-Neukölln fest 

Nach Informationen der »Bild« soll der Mann ein Ziel in Berlin im Blick gehabt haben

 02.11.2025 Aktualisiert

Interview

»Wir hatten keine Verwandten«

Erst seit einigen Jahren spricht sie über ihre jüdischen Wurzeln: Bildungsministerin Karin Prien erzählt, warum ihre Mutter davon abriet und wann sie ihre eigene Familiengeschichte erst begriff

von Julia Kilian  02.11.2025 Aktualisiert

Meinung

Ich kann euch nicht hören

Während im Sudan die schwerste humanitäre Krise der Welt tobt, schweigen die selbst ernannten Menschenrechts-Demonstranten in Europa und auf der Welt

von Sophie Albers Ben Chamo  02.11.2025