Antisemitismus

In modernem Gewand

Wirksamer Meinungskampf braucht einen breit gefächerten Antisemitismusbegriff. Foto: Thinkstock

Offiziell sind alle gegen Judenhass, auch die Antisemiten. Anders gesagt: Auch wenn etwa ein Fünftel der Deutschen Antisemiten sind, lässt das vielleicht ein Prozent für sich gelten. Ein riesiger blinder Fleck, wie das die Psychologen nennen. Und nicht nur riesig, auch gefährlich.

Wofür definieren wir, wer Antisemit ist? Für die politische und gesellschaftliche Debatte. Nicht für den Plausch unter Germanisten. In der Politik geht es immer um die Vorbereitung von Handeln. Das klärt schon die nächste Frage: Warum definieren wir das? Um verbale und körperliche Aggression erkennen und bekämpfen zu können. Denn dies war und ist der politische Zweck des Antisemitismus: Hass, Aggression und schließlich Gewalt hervorzurufen.

ausdrucksformen Der Antisemit lässt sich nicht in einem Satz beschreiben. Gerade weil der Antisemitismus mutiert, sich neuen Gegebenheiten anpasst. Pferdehandel ist heute bedeutungslos, also gibt es den Juden als »Rosstäuscher« nicht mehr. Und die »Hostienschändung« ist tabuisiert. Dafür gibt es einen jüdischen Staat und den Hass auf ihn. Der Antisemitismus ist nicht verschwunden. Er sucht sich nur neue Ausdrucksformen.

Der Antisemitismusforscher Samuel Salzborn zählt auf: religiösen Antisemitismus, völkisch-rassischen, sekundär-schuldabwehrenden (gerichtet gegen die Erinnerungskultur der Schoa), antizionistisch-antiisraelischen und arabisch-islamischen Antisemitismus. Für mich gehört noch der wirtschaftlich-kulturelle Antisemitismus dazu. Der Historiker Götz Aly etwa hat gezeigt, dass sich der Judenhass nicht ohne Sozialneid erklären lässt.

Fatalerweise neigen Politik und Gerichte dazu, nach einer knappen Definition von Antisemitismus zu suchen. Die kann aber nicht alle Spielarten erfassen. Ein wirksamer Meinungskampf braucht einen breit gefächerten Antisemitismusbegriff. Wo die Sprache des Hasses um sich greift, muss engagierte Gegenrede möglich sein, auch schon vorbeugend.

assoziationen Wer Hass predigt, schafft selbst das Risiko, dass er hart, vielleicht zu hart angegangen wird. Wo Meinungsmacher von »den Weisen«, »Tel Aviv und Washington« dem »Ostküstenkapital« reden, müssen sie damit leben, dass sie (angeblich) missverstanden werden. Wer nicht als Antisemit gelten will, kann sich eindeutig ausdrücken, statt ungute Assoziationen in Kauf zu nehmen.

Was steht auf dem Spiel? In Anbetracht der verbreiteten Gleichgültigkeit gegenüber Antisemiten meint wohl mancher, es gehe nur um Juden und sei wohl »nicht so schlimm«. So war und ist das auch beim Terror. Als Juden und andere Minderheiten in den 80er-Jahren Ziel rechten Terrors wurden, blieb der Ruf nach einer Neuausrichtung der Politik aus. Die Mehrheitsgesellschaft stand ja nicht im Fokus. Ganz anders jetzt. Und dies, obwohl die statistische Gefahr bezogen auf 80 Millionen Bürger immer noch viel geringer ist als beim gezielten Terror gegen die wenigen Juden.

Meine Erklärung: Die Opferrolle der Juden wird als Normalität empfunden – auch von uns Juden. Nehmen wir den 9. November. Ausgerechnet ein Tag, der für das einzige Ziel steht, das Nazi-Deutschland dauerhaft erreichte, die Marginalisierung der europäischen Juden, ist unser Hauptgedenktag. Ein ganz anderes Signal wäre, beispielsweise an den Beginn des Aufstands im Warschauer Ghetto anzuknüpfen.

zielscheibe Jean-Paul Sartre sagte, der Antisemitismus sei kein Problem des Juden, sondern eines des Antisemiten. Ein Problem des Juden sei der Antisemitismus insofern, als er dessen Zielscheibe wird. Viel mehr aber ist er ein Problem der Gesellschaft, weil er auf vielfältige Defizite in Wissen und Werten verweist. Juden werden zum Randphänomen gemacht; sie existieren oft nur als Objekte von Erinnerungskultur.

Es ist doch so: Der im Abendland bekannteste Jude ist Jesus und die bekannteste jüdische Erfindung das Christentum. Tatsächlich gab es ganz andere jüdische Einflüsse auf die Weltkultur. Allgemeine Bildung: Die Juden sind das einzige Volk, das seit der Antike den Analphabetismus besiegt hat. Globalisierung: Ebenfalls seit der Antike betreiben Juden aufgrund großflächig gemeinsamer Sprache und Gesetze weltweiten Handel. Urbanisierung: Wo Juden lebten, entwickelten sie die Städte weiter. Ein wichtiges jüdisches Erbe ist schließlich die Betonung des Individuums und dessen Unverletzlichkeit.

ideologie Antisemitismus richtet sich auch gegen all dies. Es ist kein Zufall, wenn Antisemiten diese Errungenschaften ablehnen und stattdessen auf Blut und Boden, völkisches Denken und Unterordnung des Individuums unter eine Ideologie setzen. So derzeit in Polen und Ungarn, in vielen arabischen Staaten, bei der NPD und bei AfD-Politikern.

Wo Judenhass bekämpft werden soll, brauchen wir also ein Judentum, das lebendiger Teil der allgemeinen Bildung ist. Wir brauchen eine Haltung, die Antisemitismus sensibel wahrnimmt, statt ihn wegzudefinieren. Wir brauchen das Bewusstsein, dass Antisemitismus nicht nur Juden gefährdet, sondern sich gegen zentrale zivilisatorische Errungenschaften richtet.

Der Autor ist Anwalt und sitzt im Vorstand der Jüdischen Gemeinde Göttingen.

Meinung

Wieder ein Milliarden-Blankoscheck für Palästina?

Europa will den Wiederaufbau Gazas mit 1,6 Milliarden Euro fördern. Glaubt man in Brüssel wirklich, durch Scheckbuchdiplomatie etwas zum Besseren verändern zu können?

von Jacques Abramowicz  07.11.2025

Jerusalem

Bischof Azar bedauert Irritation durch »Völkermord«-Äußerung

Weil er in einem Gottesdienst in Jerusalem von »Völkermord« an den Palästinensern sprach, hat der palästinensische Bischof Azar für Empörung gesorgt. Nun bedauert er, dass seine Worte Irritation ausgelöst haben

von Christine Süß-Demuth  07.11.2025

Berlin

Israelfeindliche Aktivisten besetzen ZDF-Hauptstadtstudio

Die Polizei musste die Besetzung beenden

 07.11.2025

Medienbericht

Katar soll mutmaßliches Missbrauchsopfer von Karim Khan ausspioniert haben

Das Emirat scheint sich in den Skandal um den Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs eingemischt zu haben, wie Recherchen nun zeigen

 07.11.2025

Berlin

Sarah Wedl-Wilson räumt Defizite bei Fördermittel-Vergabe ein

Wurden Gelder für Projekte gegen Antisemitismus rechtswidrig verteilt? Das werfen Grüne und Linke der Kultursenatorin vor. Nun äußert sie sich

 07.11.2025

Diplomatie

Kasachstan will sich den Abraham-Abkommen anschließen

US-Präsident Donald Trump kündigte den Schritt wenige Tage vor dem Besuch des saudischen Kronprinzen im Weißen Haus. Auch Saudi-Arabien solle seine Beziehungen zu Israel normalisieren, so die Hoffnung des US-Präsidenten

 07.11.2025

Antiisraelischer Beschluss

Linken-Spitze distanziert sich von Parteijugend

Die Linksjugend Solid wirft Israel unter anderem einen »kolonialen und rassistischen Charakter« vor – und löst in der Partei Empörung aus

 06.11.2025

Urteil

Betätigungsverbot für israelfeindlichen Aktivisten war rechtswidrig

Ghassan Abu-Sittah, der der israelischen Armee vorwirft, vorsätzlich Kinder zu töten, hätte auf dem »Palästina-Kongress« sprechen dürfen

 06.11.2025

Terrorismus

Nach Hamas-Festnahme: Waffenfund in Österreich

Der österreichische Verfassungsschutz stellte fünf Faustfeuerwaffen und zehn Magazine sicher

 06.11.2025