Zwischenruf

Im Land der Gleichgültigen

Deutsche Szene 2014 Foto: dpa

Ich bin auf Besuch in Berlin, und seit Tagen bekomme ich E-Mails von meinen Freunden in San Francisco. Sie verstehen nicht, was in Deutschland passiert. »Bist du okay?«, fragen sie. »Das ist ja alles schrecklich.«

Auf einer pro-palästinensischen Veranstaltung in der Stadt greifen Demonstranten ein israelisches Ehepaar an. Auf Transparenten liest man: »Kindermörder Israel«. Pro-Israel-Demonstranten schallen Rufe entgegen wie: »Hamas, Hamas, Juden ins Gas«. Und niemand geht auf die Barrikaden. Es gibt keinen kollektiven Aufschrei. »Was ist da los?«, fragen meine Freunde.

offiziell Wahrscheinlich ist die Situation für sie umso schwerer zu verstehen, als sie partout nicht in ihr neues Deutschlandbild passen will. Meine Freunde besuchen das Land häufiger, auch und gerade, obwohl ihre Familien einst von dort fliehen mussten. Sie suchen nach Gräbern und alten Häusern, sehen das Holocaust-Mahnmal und das Jüdische Museum in Berlin, die Gedenkstätten und große neue Synagogen. Sie halten diese Bauten und Anlagen für den Ausdruck eines bewussten Umgangs mit der Geschichte – einer von Empathie getragenen Auseinandersetzung der deutschen Bürger.

Mit diesem Bild lässt sich nur schwer vereinbaren, dass ein nicht zu unterschätzender Anteil dieser Bürger kaum noch Hemmungen hat, antisemitische Tiraden abzuspulen, oft unter dem Hinweis, man dürfe ja wohl die israelische Politik kritisieren. Und noch weniger, dass es dagegen kaum Proteste gibt. Dass die Mehrheit es schweigend hinnimmt, dass Juden in Deutschland mit Bedrohungen, Beleidigungen, Friedhofsschändungen und Schmierereien an ihren Einrichtungen und immer öfter mit Gewalttätigkeiten leben. Dass kaum jemand Empathie aufbringt.

kluft Meine Freunde haben das offizielle Bild in ihren Köpfen. Das Bild Deutschlands, dessen Regierung sich vorbildlich zur Geschichte und zu ihrer Verantwortung daraus bekennt. Doch die Kluft zwischen der Regierungshaltung und der des Volkes wächst von Jahr zu Jahr. Als ich in den letzten Jahren seines Lebens mit meinem Mann in Deutschland unterwegs war, hat mich gequält, mit welcher Kälte manche Gesprächspartner reagierten, wenn sie erfuhren, dass er emigriert und seine Familie in der Schoa ermordet worden war.

Ein ähnliches Gefühl beschleicht mich heute bei Diskussionen über Israel, oder wenn ich Kommentare lese oder höre, die sich mit jüdischen Themen beschäftigen. Ob es Beschneidung und Schächtung sind, die Entführung und Ermordung der drei israelischen Teenager oder die Geschehnisse im Gazastreifen – oft schimmert durch die Worte eine Kaltschnäuzigkeit Juden gegenüber, die ich benennen, aber schwer greifen kann, eine Haltung, die über analytische Distanz und Objektivität hinausgeht.

Sie wird getragen von Geschichtsvergessenheit und einer Ignoranz, die man in manchen Fällen als geistige Verrohung bezeichnen muss. Wie kann es sein, dass Menschen so wenig Empathie mit den Juden haben? 70 Jahre nach der Schoa?

verankert Antisemitismus ist kein Vorurteilssystem unter vielen, sondern tief in den abendländischen Denk- und Gefühlsstrukturen verankert, sagt Monika Schwarz-Friesel, die zusammen mit Jehuda Reinharz das Buch Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert herausgegeben hat, das – neben ihrer anderen neuen Publikation Aktueller Antisemitismus – ein Phänomen der Mitte – wohl bisher wichtigste Buch zum sekundären Antisemitismus. Man müsse sich immer wieder klarmachen, dass die Verurteilung von Antisemitismus erst wenige Jahrzehnte alt sei.

»50 Jahre Aufklärungsarbeit stehen über 1900 Jahren judäophober Kultur gegenüber. Die Gesellschaft muss dies zunächst realisieren und akzeptieren«, so Schwarz-Friesel. Die Berliner Wissenschaftlerin zitiert in ihrem Buch Briefe von Rechtsanwälten und Ärzten, angefüllt mit antijüdischen Stereotypen, unterzeichnet mit vollem Namen. Denn als Antisemiten sehen sich diese geistigen Brandstifter nicht. Dabei arbeiten sie den Schlägern und den Hakenkreuzschmierern zu. Und die Mehrheit lässt beide Seiten gewähren. Und merkt nicht, dass sie auch damit etwas tut.

Berlin

Sicherheitskabinett berät über Entwicklung in Gaza

Deutschland drängt Israel, mehr humanitäre Hilfe in Gaza zu ermöglichen. Nun beruft der Kanzler einen engeren Kabinettskreis ein, um das weitere deutsche Vorgehen zu erörtern

 27.07.2025

Diplomatie

Frankreichs Außenminister: Arabische Länder werden Hamas verurteilen

Am Montag beginnt die UN-Konferenz zur Zweistaatenlösung im Nahost-Konflikt, initiiert von Frankreich und Saudi-Arabien. Der französische Außenminister setzt in einem Interview Ziele

 27.07.2025

Essay

Habe ich noch einen Platz in der SPD?

Der Schoaüberlebende Reinhard Schramm ist Sozialdemokrat. Doch seit dem 7. Oktober 2023 hadert er immer öfter mit seiner Partei. Nachdem führende SPD-Politiker Sanktionen gegen Israel gefordert haben, denkt er sogar über einen Austritt nach

von Reinhard Schramm  27.07.2025

Diplomatie

Merz telefoniert mit Netanjahu über Situation in Gaza

Der Bundeskanzler fordert im Gespräch mit dem israelischen Premier unter anderem mehr humanitäre Hilfe für die Zivilbevölkerung in Gaza. Bereits gestern hat Israel eine Verbesserung der Versorgung in die Wege geleitet

 27.07.2025

Diplomatie

Laschet kritisiert Macron: »Er belohnt die Hamas«

Der französische Präsident hat angekündigt, Palästina als Staat anzuerkennen. Der CDU-Außenpolitiker Armin Laschet hält das für ein falsches Signal

 27.07.2025

Washington

Trump über Macrons Palästina-Entscheidung: »Was er sagt, spielt keine Rolle«

Frankreichs Präsident Macron will im September die Anerkennung Palästinas als Staat verkünden. Nun hat sich US-Präsident Donald Trump zu dem Vorhaben geäußert

 27.07.2025

Terror

USA kritisieren Freilassung von Georges Ibrahim Abdallah durch Frankreich

Der libanesische Terrorist saß 41 Jahre lang in einem französischen Gefängnis. Nun ist er wieder frei

 27.07.2025

Berlin

Angriffe und Antisemitismus: Polizei löst Queer Pride in Berlin auf

Parallel zur großen Hauptveranstaltung findet am Christopher Street Day in Berlin eine weitere queere Demo statt. Dabei kommt es zu Ausschreitungen, Flaschenwürfen und Festnahmen

 27.07.2025

London

Großbritannien will Palästina vorerst nicht als Staat anerkennen

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat angekündigt, Palästina als Staat anerkennen zu wollen. Der britische Regierungschef Keir Starmer wählt einen anderen Weg

 26.07.2025