Meinung

Gedenken ist wichtig. Doch was ist mit der Gegenwart?

Gedenkstein in Leipzig am Standort der vor dem Zweiten Weltkrieg bedeutendsten Synagoge der Messestadt, die während der Novemberpogrome 1938 zerstört wurde. Foto: picture alliance/dpa

Nie wieder? Seit mittlerweile mehr als 20 Jahren lebe ich mit meiner Familie in Deutschland. Und ich kann mich noch ganz genau daran erinnern, wie sehr mich jedes noch so kleine Symbol und jede Geste, die das Andenken an die schreckliche Geschichte des Holocaust aufrechterhalten, zutiefst bewegt haben.

Denn wir kamen aus der ehemaligen Sowjetunion, einem Land, in dem das gesamte Thema jahrzehntelang tabuisiert wurde. Das Geschehene wurde verdrängt, selten besprochen, und an öffentliche Zeichensetzung des Gedenkens war gar nicht erst zu denken.

gedenkkultur Die meiner Meinung nach weltweit völlig einzigartige Gedenkkultur, wie wir sie in Deutschland kennen, ist alles andere als selbstverständlich, und darauf können wir als Volk stolz sein. Es ist eine immense Verantwortung, die in unterschiedlichsten Formen von mehreren Generationen wahrgenommen und weitergegeben wird.

Umso komplizierter ist es, das Bild des Gedenkens mit dem täglich präsenten Antisemitismus zu vereinbaren. Die Situation wird seit 2014 spürbar ernster; Aussagen, die vor einigen Jahren noch verpönt waren, werden heute in Zeitungen gedruckt, sind salonfähig und genießen nicht selten Zustimmung aus unterschiedlichen politischen Ecken.

Jedes Jahr finden wir uns öfters gemeinsam mit Vertretern von regionalen und nationalen Institutionen versammelt, meist im Rahmen einer Gedenkveranstaltung, und kommen unserer Pflicht nach, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, damit sich diese in der Zukunft nicht wiederholen.

Doch was ist mit der Gegenwart? Wie oft kann man wiederholen, dass Antisemitismus keinen Platz in einer Demokratie hat, dass unsere Gesellschaft aktiv Judenhass bekämpft, ohne auch nur Ansätze zu liefern, wie man mit solchem Hass umgeht, ohne Ideen zu diskutieren, wie man ihm vorbeugt?

floskeln Es ist schwer, die Sorge loszuwerden, dass solche Gedenkveranstaltungen für viele der Teilnehmenden lediglich zu einem weiteren Programmpunkt in einem auch so schon vollen Kalender geworden sind. Man sieht jedes Jahr dieselben Gesichter und spricht die dieselben Floskeln, die zu erwarten sind.

Es ist schwer, die Sorge loszuwerden, dass solche Gedenkveranstaltungen für viele der Teilnehmenden lediglich zu einem weiteren Programmpunkt in einem vollen Kalender geworden sind.

Dabei entgeht uns, dass wir ein enormes und äußerst vergängliches Privileg haben: Menschen, die die Schrecken des Holocaust überlebt haben und es sich zur Aufgabe machen, die Gesellschaft aufzuklären. Und es muss unsere Aufgabe sein, diesen Menschen zuzuhören, solange wir es noch können. Denn die Aufklärungs- und Gedenkarbeit, wie wir sie kennen, wird es in einigen Jahren nicht mehr geben. Gerade deshalb muss der gesamte Ansatz überdacht werden.

Wenn es um Antisemitismus geht, kommen Reaktionen aus der Politik und Gesellschaft meistens zu spät. Man hat zunächst versucht zu bestreiten, dass es in Deutschland heutzutage noch Antisemitismus gibt, und als sich das offensichtlich nicht verneinen ließ, diskutierte man dessen Definition und Ursprung, alles, um keine Verantwortung zu übernehmen. Warum braucht es erst einen Anschlag auf eine Synagoge oder einen internationalen Skandal um eine Kunstaustellung, bevor Judenhass thematisiert wird?

feindseligkeit Wenn wir »Nie wieder« sagen, erinnern wir uns an eine Zeit voller Gewalt und Feindseligkeit. Doch diese Zeit hat nicht mit Konzentrations- und Vernichtungslagern angefangen. Sie begann mit Worten, gefolgt von Symbolen und Gesten der Diskriminierung. Und die ganze Welt hat zu spüren bekommen, was passiert, wenn man sich nicht rechtzeitig engagiert. Wenn man sich selbst einredet, dass man nicht betroffen ist.

Unsere Synagoge, so wie viele anderen Synagogen in Deutschland, hat dieses Jahr mehr Sicherheitsmaßnahmen ergriffen als je zuvor, auf Rat des Kriminalamtes. Das war nicht das erste Mal, dass unsere Sicherheit ein Thema wurde, aber wir wollten bis jetzt nicht die Notwendigkeit dieser Maßnahmen anerkennen. Neben Panikknöpfen in jedem Raum, Überwachungskameras, einer Schleuse und kugelsicheren Fenstern ziert jetzt ein spitzer Metallzaun die Mauern unseres Gebäudes.

Und das alles mag vielleicht keine offensichtliche oder spürbare Auswirkung auf die Gesellschaft haben, aber es könnte kein passenderes Symbol geben. Jüdinnen und Juden sind heute in diesem Land nicht sicher. Daran können aber kein Zaun und keine Kamera etwas ändern.

Die Bedenken über unsere Sicherheit sind nicht nur eine Frage von Empfinden und Gefühlen, sondern ein konkreter Fakt, den man akzeptieren muss, bevor man ihn bewältigen kann.

Die Autorin ist Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Kassel.

Australien

Polizei: Angreifer in Sydney waren Vater und Sohn 

Weitere Details des judenfeindlichen Terroranschlags werden bekannt

von Denise Sternberg  14.12.2025

Hintergrund

Der Held von Sydney

Laut australischen Medien handelt es sich um einen 43-jährigen muslimischen Vater von zwei Kindern, der einen Laden für lokale Produkte betreibt

 14.12.2025

Jerusalem

Israels Regierungschef wirft Australien Tatenlosigkeit gegen Judenhass vor

Nach einem Anschlag in Sydney fordert Netanjahu von Australien entschlosseneres Handeln gegen Judenhass. Er macht der Regierung einen schweren Vorwurf

 14.12.2025

Kommentar

Müssen immer erst Juden sterben?

Der Anschlag von Sydney sollte auch für Deutschland ein Weckruf sein. Wer weiter zulässt, dass auf Straßen und Plätzen zur globalen Intifada aufgerufen wird, sollte sich nicht wundern, wenn der Terror auch zu uns kommt

von Michael Thaidigsmann  14.12.2025

Meinung

Blut statt Licht

Das Abwarten, Abwiegeln, das Aber, mit dem die westlichen Gesellschaften auf den rasenden Antisemitismus reagieren, machen das nächste Massaker nur zu einer Frage der Zeit. Nun war es also wieder so weit

von Sophie Albers Ben Chamo  14.12.2025 Aktualisiert

Anschlag in Sydney

Felix Klein: »Von Terror und Hass nicht einschüchtern lassen«

Zwei Männer töten und verletzen in Sydney zahlreiche Teilnehmer einer Chanukka-Feier. Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung äußert sich zu der Tat

 14.12.2025

Terror in Sydney

Zivilist entwaffnet Angreifer und wird als »Held« gefeiert

Zwei Männer schießen auf Teilnehmer einer Chanukka-Feier in Sydney: Es gibt Tote und Verletzte. Ein Video soll nun den mutigen Einsatz eines Passanten zeigen

 14.12.2025

Australien

Merz: »Angriff auf unsere gemeinsamen Werte«

Bei einem Anschlag auf eine Chanukka-Feier in der australischen Metropole gab es viele Tote und Verletzte. Der Bundeskanzler und die Minister Wadephul und Prien äußern sich zu der Tat

 14.12.2025 Aktualisiert

Terror in Sydney

Zentralrat der Juden: »In Gedanken bei den Betroffenen«

Der Zentralrat der Juden und weitere jüdische Organisationen aus Deutschland äußern sich zu dem Anschlag auf eine Chanukka-Feier im australischen Sydney

 14.12.2025 Aktualisiert